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Stephan Conermann: Islamische Welten. Einführung, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 10 [15.10.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
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Islamische Welten

Einführung

Von Stephan Conermann

Für dieses erste Forum Islamische Welten nach der Sommerpause sind 12 Besprechungen durchaus interessanter Werke verfasst worden, die zum Teil wichtige Themen der Geschichte der muslimischen Gesellschaften und Herrschaftsverbände berühren. Dazu gehört natürlich die westliche Koranforschung, die in den letzten 175 Jahren eine sehr große Zahl wissenschaftlicher Beiträge vorlegen konnte. Sehr intensiv setzte man sich sowohl mit der Entstehung des Korantextes und seines Sinns im Ursprungsmilieu wie auch mit seinen inneren poetischen Strukturen auseinander. In den letzten Jahren fand jedoch ein bemerkenswerter Paradigmenwechsel statt. Im Vordergrund steht heute nicht mehr die Frage, wie der Korantext sich herausgebildet hat, sondern wie er von den Rezipienten verstanden wurde. Nachdem Navid Kermani hierzu im Jahre 2000 bereits eine grundlegende Studie (Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Korans, 4. Aufl. München 2010) vorgelegt hat, greift Nicolai Sinai das Thema in seiner 2009 publizierten Dissertation (Fortschreibung und Auslegung. Studien zur frühen Koraninterpretation) erneut auf. In einer ausführlichen Rezension wägt Hans-Thomas Tillschneider die Vorzüge und Schwächen des von Sinai gewählten Ansatzes ab. (Tillschneider über Sinai) Derselbe Rezensent hat sich dann auch noch mit einem anderen, ebenso spannenden Gegenstand befasst, nämlich mit dem komplexen und spannungsreichen Verhältnis von Historiographie und Literatur. Dieses Problem steht nämlich im Mittelpunkt von Matthias Vogts Promotionsschrift "Figures de califes entre histoire et fiction. Al-Walīd b. Yazīd et Amīn dans la représentation de l'historiographie arabe de l'époque ʿabbāside (Würzburg 2006). Dem Rezensenten geht der von Vogt verfolgte Ansatz nicht weit genug, da es nicht sehr sinnvoll sei, für die voraufklärerische und religiös aufgeladene Geschichtsschreibung eine Trennung in fiktional vs. nicht-fiktional vorzunehmen. Chronikales und fiktives Erzählen fielen hier zusammen und wiesen die gleichen narrativen Strukturen auf. Insofern müsse man die Existenz eines dritten Raumes entre histoire et fiction bezweifeln. (Tillschneider über Vogt)

Die Dwight H. Terry Lectureships an der Yale University haben in etwa den Rang der Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Ahmad Dallal, Associate Professor für Arabic and Islamic Studies der Georgetown University, hielt 2008 in diesem Rahmen eine Vorlesungsreihe zum Thema Islam, Science, and the Challenge of History, die nun in Buchform vorliegt. Dallal gibt uns einen kenntnisreichen historischen Überblick über die Rolle der Naturwissenschaften im Islam und ihr durchaus schwieriges Verhältnis zur Religion und Philosophie. (Schüller über Dallal) In diesem Zusammenhang mag auch das neue Buch des Tübinger Emeritus' Josef van Ess interessieren. Van Ess beschreibt die Problematik von Einheit und Vielfalt islamisch-religiösen Denkens, also die Relation von Rechtgläubigkeit und Devianz im Islam. Vor uns liegt eine voluminöse Darstellung der historischen Entwicklung dessen, was als "Häresiographie" bezeichnet wird, wobei die beschriebenen theologischen Auseinandersetzungen mit "Lehrabweichungen oder sektiererischen Gruppen" (zumindest vom Anspruch her) zeitlich vom 8. bis zum 19. Jahrhundert und räumlich von Andalusien bis Südasien reichen. (Hartung über Van Ess)

In der Arthur M. Sackler Gallery, die ein Teil der Smithsonian's Museums of Asian Art ist, gab es vom 26. bis zum 29. September 2002 eine große Ausstellung zur Mogulmalerei am Beispiel der in dem von Akbar (reg. 1556-1605) in Auftrag gegebenen "Hamza Nama". 61 der ca. 1400 Illustrationen dieses weithin bekannten und durch die Zeiten von weiten Bevölkerungsschichten begeistert rezipierten Erzählzyklus' um den Prophetenonkel Hamza konnte man vor Ort bewundern. Von diesem Schlüsseltext mogulzeitlicher "Epik" liegt nun eine 2008 veröffentlichte ausgezeichnete Übersetzung vor. Eine narratologische wie gattungstheoretische Analyse dieses Textes steht allerdings noch aus. (Kulke über Farooqi)

Wenn wir nun zur Neueren und Neuesten Geschichte kommen, so bietet hier das seit einiger Zeit theoretisch gut aufgearbeitete Thema "Empire" viel Raum für Vergleichsstudien. Imperiale Herrschaftsstrukturen komparativ zu untersuchen, ist etwa in Bezug auf die russische Dominanz in Zentralasien und die britische Kontrolle über Indien sehr sinnvoll. Noch anregender sind aber eventuell Vergleiche zwischen den Reichen der Zaren und der Osmanen. Interessant und in vielerlei Hinsicht wegweisend ist daher eine neue Studie des in Princeton lehrenden Russlandhistorikers und Islamwissenschaftlers Michael A. Reynolds. Neben den politischen und diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Imperien widmet er sich vor allem den Kontaktzonen im Kaukasus und in Ostanatolien, wo es in der Regel nicht zu einem "clash of civilizations", sondern zu oszillierenden Bündnissen verschiedener lokaler Gruppen gegen die und mit den Großmächten kam. (Deutschmann über Reynolds) Liefert diese Studie eher nebenbei auch neue Interpretationsansätze zur Entstehung des armenischen und kurdischen Nationalismus', so steht eine Neubewertung des ägyptischen Nationalismus zwischen 1870 und 1919 bei Ziad Fahmys Ordinary Egyptians. Creating the Modern Nation Through Popular Culture im Vordergrund. Fahmy, der für seine der Publikation zugrunde liegenden Ph.D.-thesis aus dem Jahre 2007 (Popularizing Egyptian Nationalism) von der Middle East Studies Association mit dem Malcolm H. Kerr Dissertation Award ausgezeichnet wurde, distanziert sich von der üblichen Politik- und Ideengeschichte und betrachtet die Herausbildung eines nationalstaatlichen Bewusstseins in Ägypten aus der Perspektive der Populärkultur. Das ist höchst innovativ und stellt einen bisher vollkommen vernachlässigten Quellenkorpus (Radio, Film, Volksdichtung und Gesang) in den Vordergrund der Betrachtung. Dadurch rückt die mittel- und unterständische Bevölkerung (im Gegensatz zur Elite) in den Fokus, wenn es um die Formierung von nationalistischen Identifikationsmustern in Ägypten geht. (Pink über Fahmy) Wie schwierig es allerdings dann im Laufe des 20. Jahrhunderts war, etwa Kommunismus und ägyptischen Nationalismus miteinander zu vereinen, zeigt exemplarisch das Leben von Fawzi Habashi (und seiner Frau Suraya Rashid). Der 1924 geborene Habashi - nominell ein Kopte - verbrachte 10 Jahre seines Lebens in ägyptischen Gefängnissen oder Straflagern. Zunächst sperrte man ihn unter König Faruk von 1948 bis 1951 ein. Nach seiner Freilassung wurde er dann während der Regierungszeit von Ali Muhammad Nagib und Gamal Abdel Nasser als Kommunist verfolgt und erneut inhaftiert. Aber auch Anwar as-Sadat und Hosni Mubarak ließen Habashi mehrmals ins Gefängnis werfen, zuletzt 1987. Nun liegt die englische Übersetzung der 2004 in arabischer Sprache erschienenen sehr lesenswerten Autobiographie vor. (Schwanitz über Habashi)

Nach der Auflösung der Sowjetunion vor nunmehr 20 Jahren (1991) entstanden aus der Erbmasse in Zentralasien die Staaten Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan. Alle Länder konnten auf eine vor-sowjetische islamische Vergangenheit zurückblicken, und nicht wenige westliche Kommentatoren sagten ein starkes Anwachsen islamistischer Bewegungen voraus, die sich alsbald zu einer massiven Bedrohung ausweiten könnten. In diese Richtung argumentiert (leider) an vielen Stellen auch der an der Oxforder Universität unterrichtende Historiker Robert Johnson in seinem Buch Oil, Islam and Conflict in Central Asia since 1945 (London 2007). Dennoch ist das Werk an sich eine ganz gute Einführung in die politischen und gesellschaftlichen Probleme der Region. Vollkommen absurd ist natürlich der reißerische Titel, den der Stuttgarter Theiss Verlag sich ausgedacht hat: Pulverfass am Hindukusch: Dschihad, Erdöl und die Großmächte in Zentralasien (Schüller über Johnson) Ebenfalls Einführungscharakter haben die Wegweiser zur Geschichte, die das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA), das sich als eine außeruniversitäre historische Forschungseinrichtung der Bundesrepublik Deutschland begreift. Nach Publikationen über Afghanistan, den Sudan, Usbekistan, den Kaukasus, den Kosovo, das Horn von Afrika und den Naher Osten haben Conrad Schetter und Berhard Chiari nun einen Band über Pakistan vorgelegt. Der Rezensent bemängelt die Unausgewogenheit des historischen Teils, der im Gegensatz stünde zu den sehr guten zeitgeschichtlichen und soziologischen Abschnitten. (Aengenvoort über Chiari/Schetter) Ebenso uneinheitlich sind offenbar auch die Beiträge in einem anderen Sammelband, der nach sechs Jahren internationalen Engagements in Afghanistan eine erste Bewertung des Einsatzes der NATO und der internationalen Gemeinschaft vornehmen möchte. Ausgangspunkt war ein deutsch-kanadischer Workshop am 13. und 14. Dezember 2007 in der Führungsakademie der Bundeswehr zum Thema Die NATO und die internationale Gemeinschaft in Afghanistan: Auf verlorenem Posten oder langfristiges Engagement? Der erste Teil des aus dieser Veranstaltung entstandenen Bandes vermittelt einen guten Einblick in spezielle Problemfelder des Afghanistaneinsatzes, wohingegen der zweite Teil sich darauf aufbauend mit dem deutsch-kanadischen Verhältnis im Rahmen des ISAF-Einsatzes befasst. Zur Sprache kommen die unterschiedliche Belastung beider Länder wie auch ihre unterschiedlichen Ansätze des Konfliktmanagements. (Schüller über Ehrhart/Pentland)

Den Abschluss bildet eine Rezension zu Werner Schiffauers wichtiger Studie über die Milli Görüş. Schiffauer beschreibt ausführlich und argumentativ überzeugend die Entstehung und Entwicklung der Organisation vor dem Hintergrund der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Dabei stehen bei ihm weder die Beschreibung ihrer ideologischen Ausrichtung noch eine soziologische Untersuchung ihrer Mitglieder im Vordergrund, sondern es geht ihm um den übergeordneten gesellschaftlichen Zusammenhang. Seine These lautet: Wir befinden uns in einer postislamistischen Phase, in der es den Anhängern von Milli Görüş nicht mehr um die Errichtung eines islamischen Staates, sondern um zivilgesellschaftliches Engagement und um eine pragmatische Auseinandersetzung mit Sachproblemen gehe. Die "zweite Generation" habe mittlerweile einen "Dritten Raum" zwischen Islam und Westen geschaffen. (Pink über Schiffauer)

Ein dichtes Programm also, das zum Nachdenken einlädt.

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