Robert Schnepf: Geschichte erklären. Grundprobleme und Grundbegriffe, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 189 S., ISBN 978-3-525-31016-8, EUR 24,95
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Robert Schnepf legt mit "Geschichte erklären" eine der ganz wenigen analytischen Auseinandersetzungen mit wissenschaftstheoretischen Grundfragen der Geschichtswissenschaft vor (andere wären etwa Thomas Haussmann oder Chris Lorenz [1]), und schon dies verdient Dank. Gegenstand seiner Auseinandersetzung, die trotz des Untertitels keine Einführung, sondern eher eine eigenständige Ausarbeitung ist, ist die etwas aus der Mode gekommene Frage nach dem Charakter geschichtswissenschaftlicher Erklärungen. Erklärungen sind zentral, weil sie eine Rechtfertigung unserer Meinungen erlauben - und damit das Vertrauen in die Wahrheit unserer Aussagen erhöhen. Damit führt er eher unpopuläre Begriffe ein: den der Wahrheit und den der Rechtfertigung von Meinungen. Noch wichtiger, er erlaubt sich die Suche nach Kriterien oder Regeln, um "Meinungen von Historikerinnen und Historikern als besser oder schlechter gerechtfertigt" (10) beurteilen zu können.
Zu diesem Zweck weist er zunächst schlüssig nach, dass es kein bloßes historisches Erzählen gibt, das ohne erklärende Anteile auskommt; Erzählungen müssen immer plausibilisiert werden, wenn wir ihnen trauen wollen. Schnepf geht dabei davon aus, dass wohl jede Erklärung auch vom Kontext der Erklärung abhängt, dass es aber auch kontextinvariante Aspekte einer Erklärung gibt und dass letztere den wertenden Vergleich verschiedener Erklärungen erlauben. Und er erlaubt sich ein letztes unpopuläres Bekenntnis: Erklärungen enthalten nicht notwendigerweise Gesetzesaussagen, können aber nur im Rückgriff auf Gesetzesaussagen gestützt werden (dies ist ein Punkt, den der Rezensent gerne genauer erklärt sehen würde).
Der argumentative Gang: Historische Erklärungen sind Erklärungen auf Grund von INUS-Bedingungen, also einem hinreichenden Bündel von für sich jeweils nicht hinreichenden, aber für das Bündel notwendigen Bedingungen. INUS-Bedingungen funktionieren nur relativ zu einem kausalen Feld, das in der Frage mit angelegt ist. Zudem funktionieren sie immer nur relativ zur gewählten Beschreibung, denn verschiedene Beschreibungen des gleichen Ereignisses ziehen verschiedene Erklärungen nach sich. Bedingungen an sich reichen aber nicht; es sollen jene sein, die das zu erklärende Ereignis kausal verursacht haben. Das zu prüfen, ist die Aufgabe kontrafaktischer Argumentation, die zumindest implizit immer mitgedacht ist. Auch Historiker kommen an dieser Stelle nicht um gesetzmäßige Annahmen herum.
An dieser Stelle erweitert Schnepf das Modell des Erklärens über Gesetzesannahmen zum komplexeren Modell genetischer Erklärungen (das Potential der historisch-genetischen Erklärung im Sinne Wolfgang Stegmüllers lotet er leider nicht aus) und geht im Anschluss auch kritisch auf die Probleme intentionaler Erklärungen ein (wobei er hier die sozialwissenschaftliche Diskussion über die Theorien rationalen Handelns, die die Aporien der intentionalen Erklärung nach Ansicht des Rezensenten lösen können, nicht diskutiert).
Auf all diesen Wegen aber funktioniert eine Erklärung nur mit Hilfe allgemeiner Begriffe, von denen einige absolute, selbst nicht hinterfragbare Voraussetzungen (Paradigmen) der Erklärung bilden. Noch wichtiger aber ist, dass durchweg auch Dispositionsbegriffe eine Rolle spielen, die "nicht dadurch etwas bedeuten, dass sie etwas in der Wirklichkeit Vorhandenes bezeichnen, sondern nur durch ihre Rolle in Theorien" (124) - im Sinne Rudolph Carnaps also "theoretische Begriffe". In einem letzten Schritt rekonstruiert Schnepf dann sowohl das Marxsche Erklärungsprogramm im Sinne seines eigenen Konzeptes als eines, das seine Dispositionsbegriffe wesentlich aus einer begrifflich scharfen Gegenwartsbestimmung gewinnt, als auch das Foucaultsche Erklärungsprogramm, das gerade eine Teleologie hin zu einer solchen begrifflich bereits gefassten Gegenwart vermeiden will und daher nur genealogisch (im Sinne Foucaults) arbeiten kann, um auf diese Weise dann am Ende zu einer noch präziseren begrifflichen Perspektive auf die Gegenwart zu kommen. Was ist aber nun die bessere historische Erklärung? Nach Schnepf jene, die zu stabilen, revisionssicheren Überzeugungen beiträgt.
Zu den Problemen, die der Rezensent mit der Argumentation hat, gehört die Qualifizierung eigentlich aller in historischen Erklärungen typischerweise verwendeten Begriffe (Mentalität, Diskurs, Handlungsspielraum, Struktur, Ereignis usw.) als "theoretische Begriffe", denen zwar eine produktive Funktion im Rahmen von Theorien zukommt, die aber nichts in der Wirklichkeit Seiendes bezeichnen. Mir scheint, dass man in der post-analytischen Philosophie nicht mehr von einer eigenen Gruppe von Begriffen ausgehen sollte, die ihre Bedeutung ausschließlich der Einbindung in eine Theorie verdanken. Einerseits verdanken alle Begriffe ihre Bedeutung einem theoretischen Rahmen, seien sie noch so empirisch (wirklichkeitsnah); andererseits haben sie durchweg einen Wirklichkeitsbezug.
Schwierigkeiten gibt es auch auf anderen Ebenen. So fehlen beispielsweise einige einschlägige Autoren; in einer analytischen Auseinandersetzung mit dem Erklären von Historikern wäre z.B. eine Beschäftigung mit Hans Albert oder auch Willard Van Orman Quine sowie Donald Davidson durchaus fruchtbar. Andere Autoren, etwa Arthur C. Danto, scheinen mir nicht fair wegzukommen; Danto wird hier neben Hayden White als Vertreter eines Denkansatzes vorgestellt, für den das historische Erklären nichts anderes als gute und überzeugende Erzählungen seien. Das entspricht zwar der deutschen, von Jörn Rüsen geprägten Danto-Rezeption, ist aber falsch, denn Danto hält ausdrücklich an Gesetzeshypothesen fest.
Im Hinblick auf Max Weber, den Schnepf vor allem als Kontrastfolie für die Auseinandersetzung mit Karl Marx und Michel Foucault nutzt, wird ein anderes Problem sichtbar: Als Philosoph verkennt Schnepf die typisch sozialwissenschaftlichen Erklärungsprobleme, die Max Weber ein bestimmtes Verständnis des handelnden Individuums voraussetzen lassen. Es geht ihm nicht um das Individuum selbst, sondern um soziale Relationen, zu deren Erklärung er auf das sozial handelnde Individuum zurückgreift. Das ist die Grundentscheidung des von Schnepf ebenfalls falsch verstandenen methodologischen Individualismus, der eben kein ontologischer Individualismus ist. (Ein ähnliches Missverständnis scheint mir bei Schnepfs Umgang mit den Weberschen Idealtypen vorzuliegen.)
Am Ende wird dann auch nicht deutlich, inwiefern ausgerechnet Marx und Foucault die Suche nach den Kriterien einer guten historischen Erklärung abschließen. Inwiefern trägt ihr Wirken zu stabilen, revisionssicheren (und in diesem Sinne "wahren") und nicht nur irgendwie "anderen" historischen Erklärungen bei?
Am Ende bleiben viele Fragen offen - aber das ist eben nicht nur eine Schwäche, sondern vielleicht auch eine Stärke dieses Bandes. Denn er fordert zur Verständigung, auch zum Streit über zentrale Fragen historischen Erklärens heraus, und weder diese Aufforderung noch der Streit selbst sind selbstverständlich. Historikerinnen und Historiker würden gut daran tun, sich immer wieder auf diese Diskussion einzulassen, und hierfür bietet Schnepf allemal mehr produktive Bausteine als viele geschichtstheoretische Kompendien aus der Feder von Historikerinnen und Historikern.
Anmerkung:
[1] Thomas Haussmann: Erklären und Verstehen. Zur Theorie und Pragmatik der Geschichtswissenschaft. Mit einer Fallstudie über die Geschichtsbeschreibung zum deutschen Kaiserreich von 1871-1918. Frankfurt am Main 1991; Chris Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Köln, Weimar, Wien 1997.
Andreas Frings