Doris Gerber: Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichten und ihre Erklärung (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 2038), Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2012, 308 S., ISBN 978-3-518-29638-7, EUR 15,00
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Mit ihrer Habilitationsschrift legt Doris Gerber eine Studie vor, die gewissermaßen zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt: Sie beantwortet zum einen "die metaphysische Frage, was das eigentlich ist, was wir alltäglich und in wissenschaftlichen Kontexten so selbstverständlich 'Geschichte' nennen", und sie geht dem damit verbundenen, eigentlich methodologischen Problem nach, "wie diese Geschichte oder eine Geschichte erklärt werden kann" (beides 11). Sie geht damit Fragen nach, die sicher nicht modisch sind; sie reihen sich aber ein in eine Tradition der analytischen Philosophie, die wohl doch noch nicht "Niedergang und Ende" (Arthur C. Danto) erlebt hat.
Um mit den guten Eindrücken anzufangen: Ganz abgesehen davon, dass es sehr erfrischend ist, erneut eine analytische Annäherung an Geschichte zu lesen, sind es insbesondere die logisch präzise Kritik an der Vorstellung der narrativistischen Konstruktion (die sie an Jörn Rüsen, Michael Baumgartner, Hayden White und Frank Ankersmit vorführt) und die ähnlich scharfe Zurückweisung der Sozialtheorie von Anthony Giddens (und ihrer nur scheinbaren Vermittlung von Struktur und Handlung), die mir große Freude machen. Gerber vertritt einerseits einen historischen Realismus, der leider nicht weiter ausgeführt wird (in Anlehnung an Chris Lorenz hätte sie hier stärker herausarbeiten können, was für eine Art von Realismus sie vertritt; das wird leider nicht deutlich), und andererseits einen klaren Primat der Handlungstheorie vor der Strukturanalyse, was sich logisch aus ihrer metaphysischen Argumentation ergibt.
Dennoch muss sich diese Studie vor allem zwei Fragen stellen: Wird sie Theorie- und Erklärungsproblemen der Geschichtswissenschaft gerecht? Und ist sie für die Geschichtswissenschaft verständlich und anschlussfähig?
Um mit der zweiten Frage zu beginnen: Leider verfällt auch Gerber in die Gewohnheit allzu vieler analytischer Philosophen, komplexe philosophische Argumentationen mit eher trivialen geschichtswissenschaftlichen Beispielen zu unterfüttern. Historiker/innen werden ihre eigene Arbeit daher in dieser Studie kaum wiederfinden. Anders als Thomas Haussmann, der seine Untersuchung zur "Theorie und Pragmatik der Geschichtswissenschaft" mit einer Fallstudie über reale geschichtswissenschaftliche Erklärungsversuche verknüpft hatte, hat man bei Gerber den Eindruck, dass ihr Impetus für diese Arbeit aus philosophischen Diskussionen stammt und sie sich eigentlich gar nicht so sehr für geschichtswissenschaftliches Erklären interessiert, wie die Studie vorgibt. Ein Beitrag zur Diskussion zwischen Analytischer Philosophie und Geschichtswissenschaft ist das Buch nicht gerade, auch eignet es sich nicht dazu, die Analytische Philosophie unter Historikern/innen populär zu machen. Das muss kein Nachteil sein, wenn sie dafür Probleme löst, die das Fach interessieren sollten. Das möchte ich an einigen zentralen Punkten der Argumentation diskutieren.
Die eigentliche Metaphysik der Geschichte, die auf Handlungen als wesentlichem Element von Geschichten beruht, möchte ich dabei nicht in Frage stellen; auch ich sehe Handlungen als zumindest konstitutives Element historischer Erklärungen. Schwieriger erscheint mir jedoch das von Gerber vorgestellte kontrafaktische Kausalitätsverständnis. Ein Ereignis A kann nach Gerber dann als Ursache eines anderen Ereignisses B (ceteris paribus) angesehen werden, wenn jenes andere Ereignis B ohne Ereignis A nicht oder nicht in dieser Form geschehen wäre. Gerber meint, auf diese Weise auf alle nomologischen Verständnisse von Kausalität verzichten zu können. Es ist jedoch alles andere als klar, wie man eine hypothetische Geschichte entwickelt, in der man das Ereignis A zum Zeitpunkt tA weglässt und ab diesem Zeitpunkt tA einen alternativen historischen Verlauf skizziert; ohne nomologisches Wissen kann diese alternative Geschichte keinerlei Plausibilität entfalten. Auch kontrafaktische Erklärungen verlangen nomologisches Wissen, d.h. Theorien (verstanden als Mengen von u.a. Gesetzesaussagen).
Problematisch erscheint mir auch die gewählte Handlungstheorie, die wesentlich auf Intentionen rekurriert. Handlungen werden erklärt, indem es gelingt, die ihnen zugrunde liegende Intention korrekt zu beschreiben. Nun wird niemand bestreiten, dass zum Begriff der Handlung wesentlich auch die Vorstellung von Intentionalität gehört; es ist aber fraglich, ob eine Handlung erklärt ist, wenn ihre Intention beschrieben wird, oder ob das letztlich nicht auf ein "A tat X, weil A X tun wollte" hinausläuft. Das von Gerber völlig ausgeblendete sozialwissenschaftliche Forschungsprogramm der Theorien rationalen Handelns etwa erklärt Handlungen letztlich als Handlungswahl, d.h. als Wahl aus unterschiedlichen möglichen Handlungen, indem z.B. in der Variante der SEU-Theorien (subjective expected utility) die Handlung mit dem subjektiv am höchsten eingeschätzten Nutzenwert gewählt wird (was nichts mit einer Unterstellung egoistischer homines oeconomici zu tun hat). Diese Handlungstheorie ist überraschenderweise sehr gut mit hermeneutischen Traditionen vereinbar, wie etwa Oliver R. Scholz gezeigt hat. Und sie ist tatsächlich eine Theorie, die unter angebbaren Parametern eine Prognose zu treffen vermag. Die intentionalistische Handlungstheorie von Gerber vermag dies m.E. nicht.
Ein besonders heikler Punkt aber ist Gerbers Konzentration auf das so genannte Kollektive Handeln, das nicht auf individuelle Intentionalität reduziert werden kann; anders als Soziales Handeln meint Kollektives Handeln eines, bei dem die Intention ein "Wir" repräsentiert, wobei die Intention mehr als eines Individuums (nämlich aller, die im "Wir" repräsentiert sind) die gleiche Handlung repräsentiert. Notwendig ist zudem die durchgängige Bereitschaft zur Kooperation. Die individuellen Handlungen sind dann Teilhandlungen dieses Kollektiven Handelns, das Kollektive Handeln selbst ist jedoch irreduzibel, also mehr als die Summe der Teilhandlungen. Als Beispiel hierfür nennt Gerber u.a. Demonstrationen. Sie zieht diese Vorstellung des Kollektiven Handelns heran, um die Genese und den Wandel von sozialen Strukturen erklären zu können; ohne Handlungen, die ein "Wir" voraussetzen, komme es nicht zur Herausbildung sozialer Strukturen.
Gerade die Rational-Choice-gestützte Soziologie (Hartmut Esser, Karl-Dieter Opp) hat jedoch überzeugend zeigen können, dass sich soziale Strukturen ohne kollektive Intentionalität, ja sogar ohne aufeinander bezogenes Handeln herausbilden können. Die komplexe Figur des Kollektiven Handelns, die philosophisch reizvoll ist, ist sozialwissenschaftlich nicht notwendig, jedenfalls für die meisten sozialen Strukturen; dass es auch solche gibt, die sich Kollektivem Handeln verdanken, wird damit nicht in Abrede gestellt. Sondert sich eine Gruppe von Demonstranten ab (269), um sich in Richtung einer Polizeiwache zu begeben, dann ist dies keineswegs zwingend Ausdruck Kollektiven Handelns, wie Gerber meint ("keiner dieser Demonstranten wäre so verrückt und würde völlig alleine auf die Polizeistation zumarschieren"), sondern vielleicht einfach der Anwendungsfall eines Schwellenwertmodells, in dem der erste Demonstrant tatsächlich niemanden weiteren braucht, um loszumarschieren, der zweite aber genau einen Mitdemonstranten, der dritte genau zwei usw.; ein Beispiel für Kollektives Handeln wäre das nicht.
Wie aber geht die Rational-Choice-gestützte Soziologie nun mit dem von Gerber intensiv diskutierten Problem um, das sich durch die geschichtstheoretischen Diskussion zieht: dass "geschichtliche Verläufe gerade dort spezifisch geschichtlich, und d.h. einer spezifisch historischen Erklärung bedürftig [sind], wo sie nicht als Resultat der Absicht verständlich gemacht werden können, die genau das wollte, was geschehen ist" (Jörn Rüsen)? Seit James Coleman wird dies als Logik der Aggregation bezeichnet und thematisiert; diese nicht-intendierten Folgen intentionalen Handelns sind das klassische Arbeitsfeld der "individualistischen" Soziologie, die sich gerade nicht für das individuelle Handeln, sondern für die sozialen Folgen dieses Handelns interessiert, dabei aber jede Erklärung auf einer nomologischen Handlungserklärung im oben skizzierten Sinne aufbaut. Das ist genau deshalb überzeugend, weil es kollektive Entitäten mit Intentionen nicht gibt; für dieses Erklärungsmodell braucht es nicht einmal die Denkfigur des Kollektiven Handelns.
Insgesamt wirft Gerber also zentrale philosophische Fragen auf, schafft es aber nicht, sie in einer für Historiker/innen attraktiven Weise zu beantworten. Weder bezieht sie sich auf real vorliegende, komplexe historische Erklärungen (sie benennt keine einzige reale geschichtswissenschaftliche Erklärung, in der Kollektives Handeln die zentrale erklärende Rolle spielt), noch integriert sie die einschlägige sozialwissenschaftliche Theoriebildung, die auch für die Geschichtswissenschaft, mehr aber noch für die philosophische Auseinandersetzung produktiv sein könnte (eine eigenständige geschichtswissenschaftliche Theoriebildung hierzu gibt es nicht und kann es m.E. auch nicht geben). Es ist dringend Zeit, Historiker/innen, Sozialwissenschaftler/innen und Philosoph/innen miteinander ins direkte Gespräch zu bringen.
Andreas Frings