Erik-Jan Zürcher (ed.): Jihad and Islam in World War I. Studies on the Ottoman Jihad on the Centenary of Snouck Hurgronje's "Holy War Made in Germany" (= Debates on Islam and Society), Leiden: Leiden University Press 2016, 357 S., Zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-90-8728-239-4, EUR 49,50
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Ende Oktober 1914 trat das Osmanische Reich in den Ersten Weltkrieg ein. Im November 1914 folgten fünf Fatwas, mit denen der Sultan des Osmanischen Reiches und Kalif den Dschihad aller Muslime weltweit gegen die koloniale Unterdrückung von Muslimen durch Großbritannien, das Russländische Reich und Frankreich erklärte. Schon im Januar 1915 hielt der niederländische Islamwissenschaftler und Kolonialpolitiker Christiaan Snouck Hurgronje fest, es handele sich um einen Dschihad "made in Germany" - und löste damit eine Kontroverse aus, die bis heute nachhallt. So ist etwa Wolfgang Schwanitz der Diskussion zwischen Christiaan Snouck Hurgronje und Carl Heinrich Becker nachgegangen; und vor wenigen Jahren veröffentlichten Wilfried Loth und Marc Hanisch einen Sammelband zum Thema "Erster Weltkrieg und Dschihad. Die Deutschen und die Revolutionierung des Orients", in dem die Autoren vor allem die konkreten Revolutionierungsprojekte deutscher Agenten im "Orient" ansprachen.
Von diesem Blick auf den "deutschen" Dschihad unterscheidet sich der von Erik-Jan Zuercher nun herausgegebene Sammelband über "Jihad and Islam in World War I" deutlich. Er ist insbesondere perspektivisch breiter angelegt; neben einem kontextualisierenden Blick auf Snouck Hurgronje (Léon Buskens) kommen osmanische Facetten des Dschihad (Mustafa Aksakal, der diesen Dschihad in osmanischen Traditionen des 19. Jahrhunderts einordnet, und Mehmet Beşikçi, der der Frage der mobilisierenden Wirkung der Dschihad-Erklärung nachgeht), der Dschihad der Schiiten im osmanischen Mesopotamien (M. Şükrü Hanioğlu), die propagandistisch-literarische Verarbeitung des Dschihad im Osmanischen Reich (Erol Köroğlu), die Bedeutung der Frau in diesem Dschihad-Konzept (Nicole van Os), die architektonische Gestaltung des Dschihad im "Halbmondlager" in Wünsdorf (Martin Gussone), Cemal Paşas islamisierende und osmanisierende Städteplanung in Syrien (Hans Theunissen), die Rolle des Scherifen von Mekka (Joshua Teitelbaum), die (muslimische) Perzeption des Dschihad durch Rashīd Riḍā (Umar Ryad) und John Buchans literarische Verarbeitung in "Greenmantle" (Ahmed K. al-Rawi) zur Sprache.
Auf diese Weise wird deutlich, dass der osmanische Dschihad im Ersten Weltkrieg mehr war als ein militärisches Abenteuer der deutschen Bündnispartner, mehr als ein Gedankenexperiment Max von Oppenheims, des deutschen "Abu Dschihad". Er entsprang einer osmanischen Tradition, im Kriegsfall auf das Denkmodell des Dschihad zurückzugreifen, der im Einzelfall auch nicht nur Muslime erfasste, sondern ebenso auch christliche Untertanen. Er diente aus Sicht der jungtürkischen Führung auch und gerade der Mobilisierung der eigenen Bevölkerung, nicht nur der Aufwiegelung der unterdrückten muslimischen Massen in den britischen, russischen und französischen Herrschaftsräumen. In diesem Sinne erfolgreich war er etwa auf dem Gebiet des heutigen Irak, wo überraschend auch schiitische Geistliche zum Dschihad aufriefen. Und es war gerade das religiöse Feld, auf dem der Scherif von Mekka dem osmanischen Sultan den Kalifatsanspruch (der für die Legitimität des Dschihad wichtig war) streitig machen konnte - eine Facette der arabischen Rebellion, die in "Lawrence von Arabien" und anderen popkulturellen Verarbeitungen des Themas keine prominente Rolle spielt.
Einige dieser Artikel fassen im Wesentlichen zusammen, was die Autoren selbst in größeren Ausarbeitungen bereits vorgelegt haben (so etwa Tilman Lüdke, der die deutsche Ausprägung des Dschihad zusammenfasst, aber auch Mustafa Aksakal und Mehmet Beşikçi) - und dies sehr prägnant und präzise. Andere Beiträge erweitern das Spektrum an Fragen zum osmanischen Dschihad um eine Gender-Perspektive oder um die Frage der realen Verbreitung des Dschihad-Anspruchs in der osmanischen Welt. Wieder andere Beiträge greifen bereits andernorts gestellte Fragen wie die Rolle des Scherifen von Mekka auf, beantworten sie aber neu und überzeugend.
Insgesamt wurde so ein Band vorgelegt, der multiperspektivisch auf das Phänomen des osmanischen Dschihad zugreift und so die von Snouck Hurgronje, aber etwa auch von Fritz Fischer geprägte Engführung auf den Dschihad als Ausfluss einer deutschen Revolutionierungsstrategie überwindet. Alle Beiträge sind auf der Höhe der Forschung und in der Argumentation nachvollziehbar und plausibel. Was ich mir ansonsten gewünscht hätte, wäre eine Auseinandersetzung mit dem historischen Ort des osmanischen Dschihad, seiner spezifischen Bedeutung im Wandel des Dschihad-Verständnisses, das bereits vor 1914 eine antikoloniale Wende erfährt, was im Band durchaus auch angesprochen wird, nach 1918 aber weiterwirkt: Ähnlich wie es einen "Wilsonian Moment" gab, eine Perzeption Wilsons in der kolonial regierten Welt, so gab es auch ein Weiterdenken des Dschihad über 1918 hinaus, das Momente dieses osmanischen Dschihad aufgreift und weiterentwickelt. Dass dies bisher nur unzureichend erforscht wurde, kann man dem vorliegenden Band aber nicht anlasten, der damit auf absehbare Zeit das Standardwerk zum osmanischen Dschihad 1914 sein wird.
Andreas Frings