Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 2. Aufl., Berlin: Ch. Links Verlag 2010, 500 S., 3 Karten, ISBN 978-3-86153-603-1, EUR 49,90
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Diese vorzügliche Studie vergleicht den Herero- und Namakrieg in Deutsch-Südwestafrika, den Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika und den Boxerkrieg in China. Die These des Buches lautet: die Art der Kriegsgewalt ging vor allem aus den Besonderheiten der Kriegsräume hervor. Die Entscheidungen des Militärs und die Einstellungen der Soldaten unterschätzt die Autorin in ihrer Bedeutung für die Formen der Kriegführung keineswegs, doch in den Mittelpunkt rückt sie den Raum. Es waren die situativen Bedingungen, die den unterschiedlichen Verlauf der Kriege und der Gewaltformen bestimmten.
Dieses Analysekonzept erläutert Kuß in dem Einleitungskapitel ausführlich, allerdings im wesentlichen begrenzt auf die internationale Forschung zu den Kolonialkriegen. Die theoretische Begründung ihres Ansatzes hätte noch gewonnen, wenn sie die Kriegstypologie räumlich und auch zeitlich weiter gefasst und in ihr die Besonderheiten der untersuchten Kolonialkriege verortet hätte. Der theoretische Einstieg wäre dann jedoch noch ausführlicher geraten.
Die drei Kriege werden zunächst in ihrem Verlauf jeder für sich skizziert. Der anschließende umfangreiche Hauptteil (Kapitel III) ist vergleichend angelegt. Sieben Bereiche werden in je einem Abschnitt detailliert analysiert: "Motivationen weißer und einheimischer Kolonialsoldaten", "Waffen und Wissen", "Ideologie und Überfahrt", "Raum und Gegner", "Krankheiten und Verletzungen", "Rezeption und Reaktionen im Ausland", "Reichstag und Militärpublizistik".
Das Quellenfundament ist auf diese weite Perspektive, in der die drei Kriege betrachtet werden, zugeschnitten. Die in staatlichen Archiven überlieferten Quellen bieten die institutionelle Innensicht und ermöglichen es, die Personaldaten aller in Deutsch-Ostafrika eingesetzten Unteroffiziere und für mehr als 2.000 Offiziere und Ärzte, die bislang im deutschen Kolonialdienst zwischen 1898 und 1914 nachweisbar sind, auszuwerten. Ein Teil dieses militärischen Personals kann die Autorin nach dem Ausscheiden aus dem Militär in den Kolonialkriegervereinen identifizieren. Zu den aussagekräftigen Quellen gehören neben den Sanitätsberichten, den offiziellen Kriegstagebüchern und privaten Tagebüchern bzw. Erinnerungen insbesondere auch die Zeitungen und Zeitschriften. Als eine Fundgrube erwiesen sich die vielen Militärzeitschriften, einschließlich der in Großbritannien, Frankreich und den USA publizierten. Sie alle beobachteten das deutsche Militär insbesondere in China und in Deutsch-Südwestafrika. Der Krieg in Ostafrika fand in geringerem Maße ihre Aufmerksamkeit und die der Öffentlichkeit. In China stellte das britische Militär eine Art Rangliste für die Truppen der beteiligten Staaten auf. In ihrer Einschätzung rangierten die deutschen und amerikanischen Truppen an der Spitze vor den französischen, dann folgten die österreichischen und italienischen und schließlich die russischen. Für das Geschehen in Südwestafrika betonten die britischen und französischen Berichte militärischer Stellen die Unerfahrenheit des deutschen Militärs und aller deutschen Kolonialbehörden. Sie kritisierten nicht die Gewalt, die ausgeübt wurde, sondern bewerteten sie nach der Effizienz bei der Niederschlagung der Aufstände. Und da sahen sie Mängel.
Die Beobachtungen von außen schärfen den Blick auf die Kriegführung durch das deutsche Militär und für die Unterschiede in den Gewaltformen auf den drei Kriegsschauplätzen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede arbeitet die Autorin präzise heraus. Zu extremer Gewalt kam es überall, auch in China, wo ein Hauptmotiv für die vielen Strafexpeditionen nach Abschluss der Kämpfe die Bereicherung durch kollektive und individuelle Plünderungen war. Die Konkurrenz zwischen den nationalen Kontingenten steigerte die Gewalt. Zum Genozid wurde der Krieg ausschließlich in Deutsch-Südwestafrika. Die genozidale Gewalt entstand, so die Autorin, aus der misslungenen Vernichtungsschlacht, auf die die deutsche Militärdoktrin fixiert war. Was mit "Vernichtung" im zeitgenössischen Sprachgebrauch jeweils gemeint war, wird präzise analysiert. Doch die genozidale Gewalt wurde, so argumentiert die Autorin, nicht erst durch die militärischen Vernichtungsbefehle eingeleitet und mit deren Aufhebung nicht beendet. Sie sei eine "militärisch-politische Handlungsoption" gewesen, deren Realisierung von den Besonderheiten des Kriegsschauplatzes ermöglicht worden sei. Und ebenso deren Unterstützung außerhalb des Militärs: "Die koloniale Siedlergesellschaft setzte die Politik des Genozids fort." Sie fand in Gestalt von Zwangsarbeit und Deportationen in der Zivilverwaltung Unterstützung.
Ein eigenes Kapitel ist der Auswertung der Kolonialkriege im deutschen Militär und den Erinnerungen in der deutschen Gesellschaft - Kolonialkriegervereine und die Pfadfinderbewegung werden untersucht - gewidmet. Hier muss sich die Autorin selbstverständlich mit der kontroversen Debatte über Verbindungslinien zwischen der genozidalen Kriegführung in Deutsch-Südwestafrika und im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen. Ihre Antwort ist eindeutig: Es gab keine. Sie begründet ihre Position auf drei Ebenen: 1. Die deutsche Militärführung habe kein Interesse gezeigt, aus der internen Auswertung der kolonialen Kriegserfahrung Folgerungen für die künftige Armeeausbildung zu ziehen. Die Vorstellungen vom künftigen Krieg wurden aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, nicht der Kolonialkriege abgeleitet. 2. Die Zahl ehemaliger Kolonialoffiziere im deutschen Nachkriegsmilitär sei viel zu klein gewesen, um dessen Einstellung zu prägen. Etliche von ihnen waren jedoch am Kapp-Putsch beteiligt und hatten sich Freikorps angeschlossen. Wer von ihnen und in welcher Funktion im Zweiten Weltkrieg aktiv war, ist noch zu erforschen. 3. Der auf "Vernichtung zielende Rassismus und Antisemitismus des Nationalsozialismus" habe sich von "jeglicher Form des kolonialen Rassismus europäischer Prägung" unterschieden und sich ideologisch nicht auf diesen gestützt.
Mit dieser Positionierung in einer kontroversen Diskussion, die nicht immer sachlich geführt worden ist, greift Susanne Kuß über ihr Untersuchungsfeld hinaus. Hier muss sie Fragen offen lassen, und das betont sie auch. Ihr Buch sollte gelesen werden als ein wichtiger Beitrag zur Erforschung kolonialer Kriege vor der Zäsur, die der Erste Weltkrieg in der Kriegsgeschichte darstellt. Sie erprobt an den deutschen Kolonialkriegen ein Analysemodell, das auch für den transnationalen Vergleich fruchtbar gemacht werden kann. Einige Spuren dazu hat sie in ihrem Werk bereits gelegt. Dass es schon nach einem Jahr eine Neuauflage erhält, lässt auf eine intensive Wirkungsgeschichte hoffen.
Dieter Langewiesche