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Seit dem Ende des Kommunismus verändert sich die polnische Gedenk- und Erinnerungslandschaft, wobei insbesondere in den letzten gut fünf Jahren eine große Dynamik zu beobachten ist. Spätestens seit der Präsidentschaft des auf dem Weg nach Katyń verunglückten Lech Kaczyński tritt der Staat verstärkt als Akteur auf, der durch ambitionierte und umfangreich finanzierte Museumsprojekte die Debatten bestimmen möchte. Mit dieser Neuorientierung sollen nicht nur vernachlässigte oder tabuisierte Aspekte wie etwa der Warschauer Aufstand oder der stalinistische Mord an den polnischen Offizieren in Katyń ins öffentliche Bewusstsein gebracht werden, sondern es geht auch darum, ein nationalstaatliches, patriotisches Geschichtsbild zu verfestigen und zu untermauern. Mit diesen Versuchen einer Normierung gehen allerdings teilweise scharfe Kontroversen um die Ausrichtung der Museumsprojekte einher, die von den jeweiligen Regierungen durchaus parteipolitisch aufgeladen werden - ohne freilich einen nationalen Grundkonsens zu verlassen, der Polen als andauernden und vorbildhaften Kämpfer für Freiheit und gleichzeitig als Opfer der totalitären Großmächte präsentiert.
An dieser Stelle sollen allerdings nicht innen- und außenpolitische Absichten der polnischen Geschichtspolitik thematisiert werden, vielmehr geht es um das jüngste Projekt der Musealisierung nach 1989, das Danziger Museum des Zweiten Weltkriegs (Muzeum II. Wojny Światowej) und dessen erste Publikationen. Das Museum, das 2008 vom Premierminister (und vormaligen Danziger Bürgermeister) Donald Tusk initiiert wurde, steht in direkter Konkurrenz zum Museum der Geschichte Polens (Muzeum Historii Polski), das bereits 2006 unter der Vorgängerregierung der Brüder Lech und Jarosław Kaczyński (Präsident bzw. Premierminister) ins Leben gerufen worden war. Während bei letzterem zwar Ausstellungskonzepte vorliegen, aber die spektakulären Baupläne für die Warschauer Innenstadt momentan - auch wegen der Finanzkrise - eher wenig Chancen auf eine Realisierung haben, ist der Bau an der Ostsee bereits im Gange und die Eröffnung ist für 2014 vorgesehen.
Damit würde der Danziger Bau knapp ein Jahr nach dem parteipolitisch unumstrittenen Museum der polnischen Juden (Muzeum Historii Żydów Polskich) eröffnet werden, welches in Warschau entsteht. Die Realisierung dieser von finanziellen und personellen Krisen geplagten Einrichtung wird dann neun Jahre gedauert haben, was einmal mehr den hohen Stellenwert zeigt, den im Unterschied dazu das Museum des Zweiten Weltkriegs bei der aktuellen polnischen Regierung genießt. Nicht umsonst ist der Direktor der Institution, der Thorner Professor Paweł Machcewicz, einer der offiziellen Berater Donald Tusks. Dessen Regierung setzt mit ihrem Prestigeprojekt auch einen Kontrapunkt gegen das erste große, neue Museum des nachkommunistischen Polens, das Museum des Warschauer Aufstands (1944) (Muzeum Powstania Warszawskiego), das bereits seit 2004 zugänglich ist und noch unter Lech Kaczyński in dessen Zeit als Warschauer Bürgermeister entstand.
Alle vier Museen haben weit reichende Deutungsansprüche auf sich teilweise überschneidenden Themenfeldern. Aber Konkurrenz belebt das Geschäft: Viele Historiker haben Stellen erhalten und erarbeiten Ausstellungskonzepte, betätigen sich aber gleichzeitig auch weiterhin wissenschaftlich mit der Publikation von Monographien und Sammelbänden in den jeweils hauseigenen Schriftenreihen. Hier sollen nun ersten fünf Buchpublikationen des Danziger Museums vorgestellt werden; dabei handelt es sich um zwei Monographien und drei Sammelbände. Einer von diesen bündelt Aufsätze des Professors der Polnischen Akademie der Wissenschaften sowie der Universität Thorn, Jerzy W. Borejsza.
Mit dem Buch des 1935 geborenen Borejsza setzt das Museum einem Mitglied seines Programmrats und zugleich einem der bekanntesten polnischen Zeithistoriker ein Denkmal. Diesem Programmrat gehören nicht nur Polen, sondern auch anerkannte Historiker aus dem Ausland an, etwa der Freiburger Professor Ulrich Herbert, Timothy Snyder aus Yale, der Israeli und Warschauer Holocaust-Überlebende Israel Gutman oder der in Polen allgegenwärtige und wegen seiner heroisierenden Bücher sehr populäre Norman Davies, Professor Emeritus der University of London. Damit will das Danziger Museum eine bewusst internationale Ausrichtung gewährleisten, die sich auch in der Gestaltung der Ausstellung niederschlagen soll.
Borejszas Buch "Stulecie zagłady" ("Das Jahrhundert der Vernichtung") versammelt von ihm verfasste Texte aus den Jahren 1972 bis 2009, allerdings wurde nur einer davon noch nicht bereits an anderer Stelle veröffentlicht. So bewundernswert breit das Repertoire des Altmeisters ist, das von Mussolini über Hitler bis hin zu Tito und Stalin sowie deren Getreuen reicht, ist es doch etwas zweifelhaft, wenn aus einem früher von Borejsza herausgegebenen Sammelband ganze sechs Texte entnommen und erneut publiziert werden. Interessanter sind Essays - und ein mit Borejsza geführtes Interview -, die in verschiedenen polnischen Tageszeitungen erschienen sind und den originellen Denker und seine gelegentlich pointierten Thesen präsentieren.
Dabei zeigt sich auch, dass sich dieser große Historiker nie lediglich auf die akademische Wissenschaft beschränkte, sondern stets in der Öffentlichkeit präsent war und ist: Da er 1975 unter kommunistischer Herrschaft seine Professur an der Warschauer Universität verlor, ist er heute ein umso glaubwürdigerer Vertreter des demokratischen Polens, der immer wieder zu den aktuellen Zeitläufen Stellung nimmt. Notwendig war dieses Buch dennoch nicht, zumal Borejsza nach wie vor aktiv ist und neue Schriften veröffentlicht. Die hier gedruckten wissenschaftlichen Texte sind an anderer Stelle gut zugänglich; die Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge sind zwar nicht ganz so schnell aufzufinden, aber letztlich doch weniger gehaltvoll und ohne jegliche Fußnoten auch nur eingeschränkt nutzbar.
Gleichwohl wird mit der Zeitspanne, die Borejszas Buch abdeckt, bereits deutlich, dass sich das Museum des Zweiten Weltkriegs keinesfalls nur auf die Jahre 1939 bis 1945 beschränken will. Der dortige Anspruch ist es, die im Grunde bis zur polnischen Unabhängigkeit 1918 zurückreichende Vorgeschichte ebenso in das eigene Wirken zu integrieren, wie die mindestens bis zum Ende des Kommunismus reichende "Nachgeschichte" des Krieges. Ganz pragmatisch verdeutlicht dies der Konferenzband "Od wojny do wolności" ("Vom Krieg zur Freiheit"), der auf eine im Herbst 2009 durchgeführte Tagung unter dem gleichen Titel - allerdings mit dem Zusatz 1939-1989 - zurückgeht; als Partner traten damals, wie hier als Mitherausgeber, die Universität Danzig, das Europäische Zentrum der Solidarność und die Danziger Abteilung des Instituts des Nationalen Gedenkens auf.
Das mit knapp 230 Seiten eher schmale Buch dokumentiert die Tagung in drei Abschnitten, die sich grob in (1) die Ereignisse 1939, (2) die Erinnerung daran sowie (3) das Ende des Kommunismus und dessen Erinnerung untergliedern. Bei den Teilen zwei und drei ist auch die jeweilige Abschlussdiskussion auf der Konferenz mit abgedruckt. Trotz der damit durchaus erreichten zusätzlichen Einordnung der Aufsätze in einen weiteren Kontext innerhalb von Forschung und öffentlicher Debatte kann der Band nicht darüber hinwegtäuschen, dass die drei Bereiche kaum einen inneren Zusammenhang aufweisen: Aufsätze über die deutsch-sowjetische Kriegführung in Galizien 1939 oder über Großbritannien und Polen während des Krieges haben keine Verbindung mit Analysen über das Jahr 1989 in der europäischen Erinnerung oder die globalen Folgen eben dieses Jahres.
Diese Schwäche wird auch nicht durch eine Einleitung ausgeglichen, die konzeptionelle Überlegungen darstellen und die gewonnenen Erkenntnisse verbinden könnte - das Buch verfügt lediglich über ein zweiseitiges Vorwort, dem man derlei Informationen nicht entnehmen kann. So macht der Band eher den Eindruck eines Schnellschusses, der etwa durch das Fehlen biographischer Angaben zu den Beiträgern verstärkt wird. Allerdings soll das nicht heißen, dass sich hier keine qualitativ hochwertigen Aufsätze finden. So bieten beispielsweise die erwähnten Überlegungen zur Erinnerungsgeschichte des Krieges und des Jahres 1989 Einblick in polnische Perspektiven und Gegebenheiten, die im Westen so kaum rezipiert werden. In Verbindung mit einem durchaus selbstreferentiellen Aufsatz über "gegenwärtige Einstellungen zur Idee eines Museums des Zweiten Weltkriegs" bieten sie wichtige Anschauungen zur Erinnerungs- und Gedenkkultur in unserem Nachbarland.
In eine ganz ähnliche Richtung geht das Buch "Między codziennością a wielką historią" ("Zwischen Alltag und großer Geschichte"), das auf 320 Seiten die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg im polnischen öffentlichen Gedächtnis untersucht und gewissermaßen eine Vorüberlegung für die Konzeption eines Museums zur Epoche 1939 bis 1945 bildet. Doch die Umsetzung ist hier wesentlich besser gelungen, da sich der Band ausschließlich auf dieses Thema konzentriert. Vorgelegt werden sozialstatistische Untersuchungen in sechs Kapiteln, die mit zahlreichen, teilweise sogar farbigen Diagrammen und Tabellen belegt werden. Erfreulich ist, dass diese Informationen auch noch durch eine umfassende Bibliographie ergänzt werden. Um die Ergebnisse dieses wichtigen Buches auch im Ausland leichter zugänglich zu machen, haben die Autoren zudem eine sechsseitige englische Zusammenfassung beigegeben, die eine rasche Orientierung ermöglicht.
Mit dem Werk liegt nun erstmals ein fundiertes, wissenschaftlich abgesichertes Panorama über die gegenwärtige Wahrnehmung des Krieges in Polen vor. Neben einem umfassenden Überblick über bisherige soziologische Studien zum Thema und deren Befunde bietet das Buch Einsichten in den gegenwärtigen öffentlichen Diskurs auf vielen Ebenen. Die repräsentativen Umfragen, die im Zuge des Projekts durchgeführt wurden, zeigen, dass 16 Prozent der Polen ein großes oder sogar sehr großes Interesse am Geschehen des Zweiten Weltkriegs haben; weitere 36 Prozent geben immerhin eine gewisse Neugier zu Protokoll. Bemerkenswert ist nun, dass sich das aus diesem Interesse erwachsene Bild über den Krieg zu ganz substantiellen Teilen aus mündlicher Überlieferung speist - zu fast 60 Prozent wird die Vorstellung durch Erzählungen von Augenzeugen innerhalb der Familie oder außerhalb bestimmt; dazu kommt noch die Lektüre veröffentlichter Memoiren. Gleichwohl kann es nicht überraschen, dass die Rolle von Film und Fernsehen für das Wissen über diese Zeit immer mehr anwächst. Sie ist größer als die der professionellen Historiker, deren populärwissenschaftliche Werke aber immerhin von über einem Drittel der Befragten gelesen werden; selbst rein akademische Publikationen nennt noch ein Viertel derjenigen als Quelle eigenen Wissens, die zumindest ein gewisses Interesse an dem Zeitraum angegeben haben.
Angesichts dieser Befunde ist es umso verdienstvoller, dass ein eigenes Kapitel die Rolle der Familie für das Gedenken an den Krieg auf Grundlage von Jan Assmanns Konzept des kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses detaillierter untersucht: Die Zeit zwischen 1939 und 1945 stellt demnach auch im generationellen Wandel in Polen das zentrale Bindeglied familiärer Erinnerung dar. Sie wird dominiert von einer martyrologischen Sichtweise, während Heroismus beinahe vollkommen fehlt. Das steht in bemerkenswertem Kontrast zur nationalen Erinnerung von Heldenmut und Patriotismus; Leiden und Überleben sind innerhalb des kulturellen Gedächtnisses nur im Bereich der Kunst vertreten. In der Öffentlichkeit ist der Stolz auf Leistungen der Verteidiger 1939 oder den Kampf der Untergrundarmee wesentlich präsenter als Aspekte des Krieges, die negativ beurteilt werden - und eben das individuelle Leid. Der Holocaust belegt bei Umfragen nach wichtigen Gesichtspunkten des Zweiten Weltkriegs lediglich den sechsten Platz; genannt werden dabei vor allem die Retter von Juden, aber auch der Pädagoge Janusz Korczak oder die Aufständischen des Warschauer Ghettos.
Die höchst bemerkenswerten Ergebnisse des Buches gewinnen durch regionale Differenzierung zusätzlich an Relevanz und Validität. So können die Autoren zeigen, dass in Polen mehrere regionale Gedächtnisgemeinschaften existieren, die jeweils ihre eigene Perzeption der Ereignisse pflegen; sie gliedern sich im wesentlichen in die verschiedenen Okkupationszonen von Nationalsozialisten und Sowjets, wobei die heutige Erinnerung stark von der ersten Besatzungsmacht bestimmt wird, der die Vorfahren begegneten. Konkret heißt das, dass die heutigen Polen in den ehemaligen deutschen Ostgebieten die Sowjets schlechter beurteilen, weil ihre Familien vor allem Vertriebene bzw. Umgesiedelte aus dem polnischen Osten sind, wo sie zwischen 1939 und 1941 - und nach 1945 - die Rote Armee als Fremdherrscher erlebt hatten. Östlich von Warthe und Weichsel sind es momentan die Deutschen, die ein schlechteres historisches Image haben als die Russen, weil diese Gebiete während der ganzen Kriegsdauer unter deutscher Besatzung standen.
In einem letzten Kapitel werden die polnischen Einstellungen zu anderen Nationalitäten untersucht. Die Ukrainer werden überwiegend negativ beurteilt, weil es während und unmittelbar nach dem Krieg zu zahlreichen, auch bewaffneten, Konflikten gekommen war. Den Juden gegenüber empfinden die Polen keine Schuld. Vielmehr stellen diese eine Art Referenzgruppe dar, mit der das eigene Schicksal verglichen werden kann. Das reicht bis hin zu einer regelrechten Opferhierarchie. So wird abschließend festgestellt, dass Polen typischerweise das Bild einer nationalen Gemeinschaft von noblen Opfern und Helden verteidigen, in der nur Verräter irgendwelche Verbrechen begingen. Die auch politisch geförderte Ansicht des Krieges als einer außergewöhnlichen Zeit von Leid und Kampf, die die nationale und religiöse Gemeinschaft förderte, ist in der Gesellschaft fest verankert. Der Warschauer Historiker Marcin Kula kommentiert diese Befunde mit den Worten, dass historische Forschung und öffentliche Perzeption teilweise weit auseinander lägen. Dies stelle allerdings keinen Grund zur Trauer dar, vielmehr solle der Historiker sich durchaus von der öffentlichen Meinung, aber auch von Politikern abheben und "weiser" denken - selbst wenn man die Frage stellen müsse, ob er das tatsächlich immer tue (293).
Neben diesen eher soziologischen Studien ist "klassische" historische Forschung allerdings etwas, das das Museum des Zweiten Weltkriegs durchaus betreibt. So legt Rafał Wnuk, wissenschaftlicher Mitarbeiter in Danzig und zugleich Professor an der Katholischen Universität Lublin, ein Buch zum polnischen Partisanenkampf gegen die Sowjets in der Gegend um die nordostpolnische Stadt Augustów vor, das die Zeit zwischen 1939 und 1941 behandelt ("Czerwone Bagno" - "Roter Sumpf"). Er vollendet damit Untersuchungen, die sein 2004 verstorbener akademischer Lehrer Tomasz Strzembosz vor über zehn Jahren begonnen hatte. Das mit knapp 200 Seiten eher schmale Werk steht exemplarisch auch für das Interesse der polnischen Geschichtswissenschaft an der sowjetischen Okkupation in Polen, die in den letzten Jahren einen regelrechten Boom erlebte und gewissermaßen ergänzend zu den zahlreichen deutschen Forschungen zum Nationalsozialismus in Osteuropa gesehen werden kann, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs stattfanden und -finden. Zu konstatieren ist allerdings auch, dass die umfassenden neuen Erkenntnisse aus unserem Nachbarland hierzulande nur wenig bzw. nur von wenigen Spezialisten rezipiert wurden. Das liegt zuvörderst an der Sprachbarriere, die durchaus wechselseitig existiert - und leider verzichtet auch Wnuk auf eine englische Zusammenfassung.
Seine Untersuchung ist methodisch recht konservativ und stark auf das militärische Geschehen ausgerichtet. Zwar schreibt Wnuk kenntnisreich, aber seine Ergebnisse beschränken sich weitgehend auf die Sicherung von Fakten; weitergehende Aspekte wie etwa das Verhältnis von Juden und Polen, Frauen bei den Partisanen oder Gruppendynamik sowie die Zusammensetzung der Widerstandskämpfer werden nur sehr kursorisch behandelt, was den Nutzen des Werkes deutlich einschränkt. Tiefergehende Forschungen, die vor allem auch Vergleiche zum späteren Partisanenkampf gegen die Deutschen umfassen, stellen nach wie vor ein Desiderat dar. Erste Grundlagen sind indes gelegt.
Gewissermaßen unter umgekehrten Vorzeichen widmet sich Tomasz Chinciński, ebenfalls wissenschaftlicher Mitarbeiter des Danziger Museums, einem anderen Untergrundkampf: Sein Buch "Forpoczta Hitlera" ("Hitlers Vorauskommandos") untersucht die Diversion der deutschen Geheimdienste am Vorabend bzw. während des Feldzugs gegen Polen 1939. Konkret nimmt Chinciński dabei Aktionen der Abwehr, des militärischen Geheimdienstes, sowie des Sicherheitsdienstes (SD) der SS in den Blick. Die grundlegende Untersuchung dieses bislang in der Forschung kaum wahrgenommenen Themas erschließt sich zumindest in ihren wesentlichen Ergebnissen dem nur deutschsprachigen Leser durch eine elfseitige deutsche Zusammenfassung; er wird zudem vom reichhaltigen Kartenmaterial profitieren können. Mit Materialien aus 14 Archiven aus fünf Ländern entfaltet Chinciński ein Panorama nationalsozialistischer Sabotagebestrebungen, das letztendlich sogar die Frage aufwirft, wie groß das Vertrauen der Berliner Strategen in die eigene rein militärische Stärke tatsächlich war - und zugleich, wie weit Hitler für seine politischen Ziele bereit zu gehen war.
Die Darstellung ist vorwiegend geographisch gegliedert, beginnt allerdings mit einer Charakteristik von Hitlers Polenpolitik - wobei der Fokus eindeutig auf der im Nachbarland lebenden deutschen Minderheit liegt. Vier umfassende Kapitel informieren dann über die Diversion in Oberschlesien, Großpolen, Pommerellen sowie dem Rest des Landes; der Schwerpunkt der Aktionen lag logischerweise im Westen, wo die Wehrmacht ihrem polnischen Gegner gegenübertreten sollte. Diese Abschnitte sind jeweils gleich aufgebaut und stellen zunächst Struktur und Personal der Sabotageeinheiten dar und gehen dann ausführlich auf deren Aktivitäten ein. Das deutsche Interesse beschränkte sich weitgehend auf strategisch wichtige Objekte wie Kraftwerke, Kommunikations- und Transportknotenpunkte sowie die Rüstungsindustrie, wobei es nicht immer nur um deren Zerstörung ging, sondern teilweise auch darum, diese für den deutschen Zugriff zu sichern und zu schützen.
Chinciński legt dar, dass Abwehr und SD seit März 1939 Maßnahmen gegen Polen organisierten - und bereits seit Oktober 1938 dafür Pläne entwickelten -, und dabei überwiegend gut zusammen arbeiteten. Beide Institutionen stützten sich in ihren Bemühen hauptsächlich auf polnische Bürger deutscher und ukrainischer Herkunft, wobei knapp 7.000 bzw. 4.000 von ihnen angeworben werden konnten. Zu gewalttätigen Handlungen kam es freilich erst ab Kriegsausbruch, zumal die Bewaffnung der "fünften Kolonne" in Polen nicht vor August 1939 begonnen hatte.
Die Effektivität der deutschen Untergrundaktivitäten beurteilt Chinciński sehr negativ. Einerseits wurden die inszenierten Übergriffe auf in Polen lebende Deutsche, die als Vorwand für den späteren militärischen Überfall dienen sollten, sehr schnell als ebensolche entlarvt. Andererseits waren die drei wichtigsten Diversionsakte nach Kriegsbeginn Fehlschläge, nämlich die für den Vormarsch der Wehrmacht relevante Besetzung und Sicherung des Bahntunnels unter dem Jabłonkowska-Pass sowie der Weichselbrücken in Tczew (Dirschau) und Grudziądz (Graudenz). Lediglich für das Gebiet um Posen können gewisse Erfolge bei der Sicherung von Verkehrs- und Marschwegen konstatiert werden. In Schlesien, wo die Industrie beim Rückzug der polnischen Armee von Zerstörungen verschont blieb, lässt sich das nicht auf die Aktivitäten des deutschen Untergrunds zurückführen, sondern vor allem darauf, dass die Polen gar keine Zeit - und kein Interesse - an einer Taktik der "Verbrannten Erde" hatten. Mehr Glück hatten deutsche und ukrainische Gruppen bei kleineren Zerstörungen in den östlicheren Landesteilen, etwa mit einem Bombenanschlag auf den Bahnhof in Tarnów oder dem Sprengen von Gleis- und Kommunikationsanlagen; auch Angriffe auf sich zurückziehende polnische Truppen sind mehrfach belegt. Die Frage nach "Franktireurs" und der angemessenen Reaktion darauf, die Jochen Böhler in seiner Studie über das Vorgehen der Wehrmacht aufgeworfen hat [1], stellte sich für den Gegner also auch.
Chinciński resümiert seine überzeugend vorgetragenen Ergebnisse ebenso prägnant wie nüchtern abwägend. Er weist darauf hin, dass sich nur etwa ein Prozent der ethnischen Deutschen in Polen an den Diversionen beteiligte, und zudem längst nicht alle "Volksdeutschen" mit Erfolg von der nationalsozialistischen Propaganda umworben wurden. Gleichwohl setzten die Ereignisse von 1939 eine ganze Volksgruppe einem Pauschalverdacht und teilweise auch Repressionen aus - diese beiden Tatsachen sind in Polen wie Deutschland teilweise nach wie vor mit zahlreichen Mythen umwoben, zumal Selbstjustiz mit unschuldigen deutschen Opfern eine Folge des Überfalls 1939 war. Da außerdem nicht wenige Saboteure bei ihren Handlungen starben und nicht mehr berichten konnten, ist eine statistische Gesamtbewertung nicht möglich. Trotzdem kann Chinciński deutlich zeigen, dass die Aktionen der deutschen Geheimdienste weniger im militärischen Bereich als erfolgreich zu bezeichnen sind, als vielmehr in der Schaffung von Unsicherheit und Spannungen in der polnischen Gesellschaft. Aber das war ebenfalls ein Ziel nationalsozialistischer Politik.
Anmerkung:
[1] Jochen Böhler: Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt 2006.
Stephan Lehnstaedt