Claudia Andrea Spring: Zwischen Krieg und Euthanasie. Zwangssterilisationen in Wien 1940-1945, Wien: Böhlau 2009, 336 S., ISBN 978-3-205-78321-3, EUR 35,00
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Claudia Andrea Springs Studie, die publizierte Fassung ihrer Dissertation, schließt mit der Darstellung der Umsetzung des nationalsozialistischen Sterilisationsgesetzes im Wirkungsbereich des Erbgesundheitsgerichtes Wien eine wichtige Forschungslücke. Erstmals wird die Bedeutung von Wien als zweitgrößter Stadt "Großdeutschlands" für den Vollzug der Zwangssterilisation wissenschaftlich aufgearbeitet. Spring weist für die Zeit vom 1. Januar 1940 bis Kriegsende über 2000 Erbgesundheitsgerichtsverfahren auf der Basis des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" nach. Zudem beschreitet sie mit ihrer methodischen Herangehensweise einen neuen Weg, denn im Mittelpunkt stehen die justizielle Praxis des Wiener Erbgesundheitsgerichtes und dessen herausragende Rolle bei der Institutionalisierung der Zwangssterilisation in der Kriegszeit. Somit bildet die Studie eine notwendige Ergänzung zu den bisherigen Regionaluntersuchungen für die "Ostmark", die vor allem die zentrale Rolle der Gesundheitsverwaltung in den Blick nehmen. [1] In welcher Weise die Legitimierung der NS-Rassenhygiene durch die Gerichte noch über 1945 hinaus in äußerst schädlicher Weise für die Betroffenen nachwirkte, wird umfassend als "Ausblick" erörtert. Wie in der Bundesrepublik galten die Zwangssterilisationen nicht als NS-Unrecht, auch wenn in Österreich das Gesetz bereits im Mai 1945 aufgehoben wurde. Erst 50 Jahre später fanden die Betroffenen Aufnahme in das Opferfürsorgegesetz (302).
Im "angeschlossenen" Österreich trat das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" deutlich später als andere nationalsozialistische Gesetze, wie etwa die "Nürnberger Gesetze" (ab Mai 1938) oder das "Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens" (ab Dezember 1938) in Kraft, nämlich mit einer Verzögerung von über einem Jahr. Das war nicht etwa eine Folge des Wirkens der in der Wiener Zwischenkriegszeit recht regen katholisch-eugenischen Bewegung, die Zwangssterilisationen ablehnte, aber pronatalistische Maßnahmen befürwortete (53-57). Im Gegenteil: die Gauleiter drängten ungeduldig auf eine rasche Einführung und seit Anfang 1939 wurde die Ärzteschaft durch umfassende Schulungen darauf vorbereitet (70-71). Der entscheidende Grund für die Verzögerung lag in den sich hinziehenden Verhandlungen über die geplanten Änderungen des Gesetzes im Altreich. Diskutiert wurde u.a. die Erweiterung des Indikationenkatalogs für die vorgesehenen medizinisch-psychiatrischen Diagnosen von "Erbkrankheit" um die Zuschreibung "asozial". Bisher hatte die Diagnose "Schwachsinn" als Code für die angebliche Erbbedingtheit unerwünschter sozialer Verhaltensweisen gedient. Doch die letztlich vollzogene Änderung des Gesetzes war vom Kriegsbeginn geprägt. Fortan sollte nur bei "besonders großer Fortpflanzungsgefahr" für eine Zwangssterilisation entschieden werden (72 f.). Bei der Diagnose "Schwachsinn" sollte im Zweifelsfall die Beurteilung der "Lebensbewährung" der Betroffenen maßgebend sein.
Wie diese radikale Umorientierung in Wien gleichzeitig als Einführung der Zwangssterilisationspraxis realisiert wurde, untersucht Spring auf der Basis von 1697 Verfahren gegen 1661 Personen der beiden Spruchkammern des Erbgesundheitsgerichtes und von 266 Verfahren gegen 260 Personen der entsprechenden Berufungsinstanz, des Erbgesundheitsobergerichtes. Von den übrigen der insgesamt mindestens 2048 Verfahren waren die Unterlagen bislang nicht auffindbar (46). Immerhin konnte Spring so 1203 Sterilisationsanordnungen und damit 20% der für die "Ostmark" bisher angenommenen Eingriffe auswerten. Ihr Augenmerk liegt auf den Handlungsspielräumen von Verantwortlichen und Betroffenen, wenn diese auch angesichts der Quellenlage letztere nur durch die Brille der Verfahrenslogik darstellbar sind. Spring arbeitet heraus, dass die Verfahren in Wien im Vergleich zur Praxis im Altreich vor der Kriegszeit weitaus sorgfältiger geführt wurden, auch mit Rücksicht auf die spürbare Abwehr in der Bevölkerung. Sie dauerten insgesamt länger, da die Richter trotz der im Verlauf des Krieges immer weiter eingeschränkten Ressourcen auf ihrem korrekten Ablauf bestanden. Hinsichtlich der inhaltlichen Umsetzung des Gesetzes stellt Spring fest, dass die Richter ihre Ermessensspielräume nutzten, wenn in den Gutachten die Einschätzung der "Fortpflanzungsgefährlichkeit" nicht klar medizinisch belegt wurde. Ganz im Sinne der Neuorientierung des Gesetzes ließen die Richter oft die Zuschreibung "asozial" nicht als Indiz für "erbkrank" zu und entschieden nach ihrem persönlichen Eindruck der "Lebensbewährung" der Betroffenen. Diese Haltung, die laut Spring nicht zum Schutz der Betroffenen eingenommen wurde, sondern eher der eigenen Auffassung vom "Wohl des Volkskörpers" entsprach, ließ sich auch beim Erbgesundheitsobergericht feststellen. Allerdings änderten diese Korrekturen nichts daran, dass die Diagnose "Schwachsinn" als maßgebende in der Urteilspraxis angewandt wurde (42%) (129).
Handlungsspielräume für die Betroffenen, die "Beantragten", wie sie in der Behördensprache hießen, waren - zumindest formal - mit der Möglichkeit gegeben, Widerspruch gegen die Sterilisationsbeschlüsse einzulegen oder in irgendeiner Weise zu versuchen, das Verfahren zu verschleppen. Bei 260 Betroffenen wurde Beschwerde gegen einen Sterilisationsbeschluss beim Erbgesundheitsobergericht eingereicht, allerdings bei nur 176 Verfahren von ihnen selbst (oder ihrem gesetzlichen Vertreter). Die übrigen Beschwerden wurden seitens der beantragenden Ärzte gegen die Sterilisation ablehnende Beschlüsse geführt. Die Beschwerdeverfahren betrafen mehr Männer (58%) als Frauen (42%) (170), was eine Verschiebung zugunsten der Männer im Vergleich zur geschlechtsspezifischen Verteilung aller Beantragten bedeutete (47% Männer und 53% Frauen). Der relativ hohe Anteil von als unmündig erklärten oder minderjährigen Betroffenen (60% der Frauen und 54% der Männer, (172) entsprach dem recht hohen Anteil von Anstaltspfleglingen unter den Betroffenen insgesamt (39% der Verfahren). Die große Mehrheit kam aus ärmeren Schichten und hatte, gemessen an den Angaben zu ihrer Berufsausübung, einen niedrigen gesellschaftlichen Status (173), was ein weiterer Grund für die relativ niedrige Einspruchsquote war. 31% hatten mit ihrer Beschwerde Erfolg (188).
Die Praxis der Krankentötungen (Stichwort "Euthanasie") hatte Spring zufolge keinen radikalisierenden Einfluss auf die Erbgesundheitsgerichtsverfahren; der Anteil von die Zwangssterilisation befürwortenden und ablehnenden Urteilen sei weitgehend gleich geblieben, ähnlich der Entwicklung der Spruchpraxis im Altreich (274). Diese Begründung lässt nicht nur viele Fragen offen, sondern verweist auch auf eine Schwäche der Studie. So detailliert und anschaulich Spring die Gerichtspraxis und die Verantwortlichkeiten untersucht, so unpräzise bleibt deren Einordnung in die gesamte NS- Zwangssterilisationspraxis, gerade wegen der oft recht vagen Vergleiche mit der Vorkriegspraxis im Altreich oder mit einzelnen lokalen Untersuchungen. Es fehlt ein systematischer Vergleich, der sich auf die Kriegszeit bezieht und die von Spring herausgearbeiteten konkreten Kriegsauswirkungen auf die Gerichtstätigkeit mit der sich insgesamt radikalisierenden Gesundheitspolitik wie auch mit den lokalen Traditionen in Beziehung setzt. Das große Verdienst der Studie liegt darin, dass sie als Grundlage dafür nicht nur eine beachtliche Datenbasis sondern auch mögliche Vergleichsparameter vorgelegt hat.
Anmerkung:
[1] Vgl. insbesondere Herwig Czech: Ärzte am Volkskörper. Die Wiener Medizin und der Nationalsozialismus, Diss. Univ. Wien 2007; Josef Goldberger: NS-Gesundheitspolitik im Reichsgau Oberdonau 1938-1945, Diss. Univ. Wien 2002; Stefan Lechner: Zwangssterilisation von "Erbkranken" im Reichsgau Tirol-Vorarlberg 1940-45, in: Geschichte und Region. Jahrbuch der Arbeitsgruppe Regionalgeschichte, hg. von Arbeitsgruppe Regionalgeschichte, Bozen, Bd. 6 (1997), Verfolgte und Vollstrecker, 117-162.
Annette Eberle