Rezension über:

Michael Wirth: Die deutsch-französischen Beziehungen während der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt (1974-1982). "Bonne entente" oder öffentlichkeitswirksame Zweckbeziehung?, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2007, 144 S., ISBN 978-3-86573-327-6, EUR 19,80
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Rezension von:
Matthias Waechter
Nizza
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Matthias Waechter: Rezension von: Michael Wirth: Die deutsch-französischen Beziehungen während der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt (1974-1982). "Bonne entente" oder öffentlichkeitswirksame Zweckbeziehung?, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2007, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 11 [15.11.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/11/18770.html


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Michael Wirth: Die deutsch-französischen Beziehungen während der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt (1974-1982)

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"Bonne entente mit Frankreich" - so ist das umfangreiche Kapitel betitelt, das Helmut Schmidt in seinen Lebenserinnerungen den deutsch-französischen Beziehungen widmet. Der Autor greift diese Formulierung auf und fragt, ob der Kanzler tatsächlich ein gutes Einverständnis mit den beiden französischen Präsidenten seiner Amtszeit - Valéry Giscard d'Estaing (1974-1981) und François Mitterrand (ab 1981) - erzielen konnte oder ob vielmehr eine "öffentlichkeitswirksame Zweckbeziehung" zwischen der Bundesrepublik und Frankreich bestand.

Diese Gegenüberstellung wirkt etwas irritierend, da zwischen den beiden Begriffen gar kein Gegensatz besteht. Natürlich war und ist die deutsch-französische Kooperation, wie alle Beziehungen zwischen Staaten, eine Zweckbeziehung; und zweifellos ist sie öffentlichkeitswirksam. Nichts desto weniger kann zwischen den "Staatslenkern", wie Schmidt es formulierte, eine enge persönliche Vertrauensbeziehung entstehen, welche die zwischenstaatliche Zusammenarbeit befördert. Gleichermaßen muss die Schmidtsche Formulierung von der "bonne entente mit Frankreich" differenzierter gesehen werden, denn der Ex-Kanzler beschrieb damit nicht unbedingt den Ist-Zustand der deutsch-französischen Beziehungen, sondern vielmehr ein Axiom seines außenpolitischen Denkens: dass ein enges Einverständnis mit Frankreich nicht nur den fundamentalen nationalen Interessen der Bundesrepublik entspricht, sondern auch die conditio sine qua non für das Fortbestehen und die Weiterentwicklung der europäischen Einigung ist.

Der schmale Band von Michael Wirth stellt vermutlich die überarbeitete Fassung einer universitären Qualifikationsschrift dar. Trotzdem erhebt der Autor nicht den Anspruch, das Wissen über die Ära Schmidt durch Quellen- und Archivforschung wesentlich zu erweitern. Er bezieht sich auf die Erinnerungen der Akteure, Reden und Erklärungen sowie auf umfassend rezipierte Forschungsliteratur. Daraus entsteht ein breites Panorama der deutsch-französischen Beziehungen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. Wirth entwickelt kompetent die wirtschaftlichen Grundbedingungen, welche die Zusammenarbeit der beiden Staaten in diesen krisenhaften Jahren prägten und eine "abgestimmte Wirtschaftspolitik", wie Schmidt und Giscard sie anstrebten, erschwerte.

Daraufhin geht der Autor auf die Errungenschaften deutsch-französischer "entente" ein, wie das Europäische Währungssystem, die Schaffung der Weltwirtschaftsgipfel und die institutionellen Reformen der EG (Direktwahl des Europäischen Parlaments, Schaffung des Europäischen Rats). Über die Strategien der Schmidt-Regierung in diesen Prozessen wissen wir mittlerweile mehr, insbesondere aus den "Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland". [1] Auch unterlässt Wirth es, die innenpolitischen Zwangslagen und Handlungsspielräume des französischen Staatspräsidenten zu erörtern. Als erster nicht-gaullistischer Präsident der V. Republik musste Giscard d'Estaing mit einer gaullistischen Parlamentsmehrheit zurechtkommen, wodurch seine Spielräume, Fortschritte in der europäischen Integration zu erzielen, signifikant eingegrenzt wurden. Die vehemente Opposition des Ex-Premierministers Jacques Chirac gegen die Direktwahl des Europäischen Parlaments, die in dem berüchtigten "Appel de Cochin" vom Dezember 1978 gipfelte, wird von Wirth nicht erwähnt. [2] Vor diesem Hintergrund bestand die vom Autor erblickte "große Chance", die Kompetenzen des Europäischen Parlaments zu erweitern, überhaupt nicht. Wie innenpolitische Krisen in der Bundesrepublik die Zusammenarbeit mit Frankreich beeinflussten, wird ebenso wenig untersucht. So führte etwa der RAF-Terrorismus zu einem plötzlichen Aufflammen antigermanischer Stimmungen in Frankreich, was Schmidt dazu bewegte, umso stärker die Verzahnung mit dem Nachbarland zu betreiben. Die knapp eineinhalbjährige Zusammenarbeit des Kanzlers mit Präsident Mitterrand wird nur kursorisch beleuchtet. [3]

Kurzum: Es handelt sich um eine zweifellos solide ausgearbeitete, sinnvoll aufgebaute und gut lesbare universitäre Arbeit. Eine historische Publikation indessen sollte den Kenntnisstand der Öffentlichkeit erweitern und nicht nur bereits Bekanntes reproduzieren.


Anmerkungen:

[1] Aus der laufenden Reihe vgl. zuletzt: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1980, hg. vom Institut für Zeitgeschichte im Auftrag des Auswärtigen Amts, München 2011. http://www.sehepunkte.de/2011/05/19779.html

[2] Vgl. dazu Matthias Waechter: Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing. Auf der Suche nach Stabilität in der Krise der 70er Jahre, Bremen 2011, 93 ff.

[3] Dazu jetzt: Ulrich Lappenküper: Mitterrand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx, München 2011, 147ff.

Matthias Waechter