Arnd Bauerkämper / Hartmut Kaelble (Hgg.): Gesellschaft in der europäischen Integration seit den 1950er Jahren. Migration - Konsum - Sozialpolitik - Repräsentationen (= Studien zur Geschichte der europäischen Integration; Nr. 8), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, 190 S., ISBN 978-3-515-10045-8, EUR 36,00
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Die europäische Integration wurde lange Zeit weder von politischen Akteuren noch von Wissenschaftlern als ein Prozess betrachtet, der nachhaltige gesellschaftliche Auswirkungen mit sich zog. Auch galt die Gesellschaft nicht als ein zentraler Akteur des Einigungsgeschehens, denn dieses verstanden viele Beobachter als einen von Eliten gesteuerten Prozess, der von den Bürgern mit wohlwollender Indifferenz begleitet und unter den Vorzeichen eines "permissiven Konsens" toleriert wurde.
In den letzten Jahrzehnten hat sich dies geändert: Die Kompetenzen der Europäischen Union sind soweit gestärkt worden, dass die gesellschaftlichen Auswirkungen der Integration auf so verschiedene Themenfelder wie Arbeitsmarkt, Sozialpolitik, Migration, Umwelt und geschlechtliche Gleichstellung augenfällig geworden sind. Dies führt dazu, dass die Gesellschaft immer stärker am politischen Geschehen der Europäischen Union Anteil nimmt; und dies bei weitem nicht immer wohlwollend. Aus dem "permissiven Konsens" sei ein "restriktiver Dissens" geworden, stellten Liesbet Hooghe und Gary Marks 2008 in einem viel beachteten Artikel fest.[1] Auch interessieren sich die politischen Akteure in Brüssel vermehrt für die gesellschaftliche Resonanz ihres Handelns und sind darum bemüht, die Identifikation mit dem Einigungsprozess zu stärken.
Diese Entwicklungen, die von den beiden Herausgebern in der Einleitung präzise aufgezeigt werden, legen es nahe, eine geschichtswissenschaftliche Bilanz der Rolle der Gesellschaft im Einigungsprozess zu ziehen: Die neun Beiträge dieses Bandes bieten ein weitgespanntes Panorama der gesellschaftlichen Rückwirkungen der europäischen Integration, von der Immigration über das Konsumverhalten, von den Ansätzen einer gemeinsamen europäischen Sozialpolitik über die Regionalpolitik bis hin zur kulturellen Identität. Dabei wird deutlich, dass eine Gesellschaftsgeschichte der EU noch im Entstehen ist. Dies hängt damit zusammen, dass sich die Historiker bislang schwer taten, die europäische Integration als ein gesellschaftsgeschichtliches Thema zu erfassen, wie Bauerkämper und Kaelble in ihrer Einleitung aufzeigen. Die Geschichte des Integrationsprozesses wurde zumeist aus der Perspektive der internationalen Beziehungsgeschichte geschrieben und vornehmlich als eine neue Form zwischenstaatlicher Zusammenarbeit analysiert. In einem thesenfreudigen Beitrag zu diesem Band legt Wolfram Kaiser dar, dass manche leitende Tendenzen insbesondere der deutschen Geschichtswissenschaft sich kaum dazu eigneten, die europäische Integration zu erfassen. Weder das Paradigma vom "deutschen Sonderweg", noch die von Historikern so geschätzte Erkenntnisform des Vergleichs zwischen Nationalgeschichten führen weiter, wenn man den Verflechtungsprozess Europas seit den 1950er Jahren erklären möchte.
Die europäische Sozialpolitik, dies wird insbesondere in den Beiträgen von Bo Stråth und Bernd Schulte deutlich, ist ein besonders sprechendes Beispiel für die Dialektik zwischen nationalstaatlicher und supranationaler Regelungskompetenz. Einerseits bleiben die Mitgliedsstaaten in der Gestaltung ihrer sozialen Systeme souverän; andererseits aber hat die europäische Ebene vielfältige Möglichkeiten, auf die Sozialpolitik der Staaten Einfluss zu nehmen und auf deren Vereinheitlichung hinzuwirken. Die relevanten Kompetenzen der EU sind teilweise auch als Nebeneffekte zentraler gemeinschaftlicher Politikbereiche wie des Binnenmarktes zu verstehen. Ob allerdings in den letzten 60 Jahren ein die Mitgliedsstaaten vereinendes "europäisches Sozialmodell" entstanden ist, muss nach der Lektüre des Beitrags von Béla Tomka bezweifelt werden. Anhand der neuen Mitgliedsländer und insbesondere des Beispiels Ungarn zeigt er auf, dass der Einfluss der EU auf die Sozialpolitik dieser Transformationsstaaten relativ gering blieb und diese sich für keines der in Westeuropa praktizierten Sicherungssysteme entschieden. Vielmehr entwickelte sie vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen ihre eigenen, "hybriden" Systeme, die sich an verschiedenen Modellen inspirierten.
Der Band schließt mit Beiträgen von Rolf Petri und Anne-Marie Audissier, die sich mit den kulturellen Identifikationsangeboten im Spannungsfeld von Nation, Region und Europa beschäftigen. Der Europäischen Union, dies wird deutlich, ist es noch nicht gelungen, ihr Leitbild einer kosmopolitischen, nationale und regionale Grenzen überschreitenden Gesellschaft unter den Unionsbürgern zu verankern. Angesichts des unter dem Eindruck der Finanzkrise vermehrt laut werdenden Rufs nach nationalstaatlicher Absicherung und dem im Wahljahr zum Europäischen Parlament 2014 wachsenden Euroskeptizismus sind die in diesem interdisziplinären Sammelband angerissenen Fragestellungen von besonderer Aktualität.
Anmerkung:
[1] Liesbet Hooghe / Gary Marks: A Postfunctionalist Theory of European Integration: From Permissive Consensus to Constraining Dissensus, in: British Journal of Political Science 39 (2008), 1-23.
Matthias Waechter