Rezension über:

Wolf Lieser: Digital art. Neue Wege in der Kunst, Potsdam: Ullmann 2010, 276 S., eine DVD, zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-8331-5344-0, EUR 39,99
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Rezension von:
Christoph Klütsch
New Media Department of Art History, Savannah College of Art and Design, Savannah
Redaktionelle Betreuung:
Barbara U. Schmidt
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Klütsch: Rezension von: Wolf Lieser: Digital art. Neue Wege in der Kunst, Potsdam: Ullmann 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 11 [15.11.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/11/20291.html


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Wolf Lieser: Digital art

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Die vorliegende Publikation ist im sogenannten Kunstmarkt entstanden. Ihr Verfasser Wolf Lieser unterhält eine Galerie für digitale Kunst, inzwischen wohl auch mehrere. Er ist Mitinitiator eines Kunstpreises für digitale Kunst und hält zuweilen auch Vorträge darüber. In seinem Buch steckt ein hoher Aufwand, es ist reich illustriert und es führt den Leser eher anekdotisch als akademisch an einen Bereich heran, der sich bis heute erfolgreich dem elitären Kunstbetrieb entzieht. Jener Bereich wird im Titel als 'digital art' charakterisiert. Nun ist es interessant zu beobachten, wie retrospektiv eine eher kleine Anzahl von kreativen Köpfen (knapp 100) diesem Begriff sowie acht Unterkategorien in Form von Überschriften zugeordnet werden: Computergrafik, Animationen und 3D in der Kunst, Net Art, Software Art, Hacktivism, Interaktive Objekte und Kunst im öffentlichen Raum, Computerspiele und Kunst und Medienfassaden - digitale Kunst im öffentlichen Raum. Eine Systematik ist nicht zu erkennen, dies wäre auch erstaunlich, würde es doch implizieren eine solche wäre denkbar. Versuche dazu gab es schon viele, so zum Beispiel a) chronologische in Form von animierten Timelines, b) technologische sortiert nach Prozessoren, Peripherie oder Softwareversionen, c) begriffliche in Form von Sprachen von neuen Medien. [1] Solche Versuche dienen verschiedenen Zwecken und spiegeln verschiedene Zugänge zum Verständnis von Kunst. Gemeinsam ist ihnen die Idee, dass es ein System gäbe, durch welches hindurch die Kunst zu betrachten wäre. Die traditionelle Kunstgeschichte mit ihrer Vorstellung einer Meistererzählung der Geschichte der Kunst, wie sie nur von einem Experten erzählt werden kann, dient hier als das Vorbild.

Solchen systematischen Zwängen unterwirft sich die vorliegende Publikation dankenswerterweise nicht. Wolf Lieser betont dies mehrfach und unternimmt den Versuch, einige Begriffe zu definieren, um sie für die Kunstmarktbetrachtung operabel zu machen. Leider gelingt dies nicht allzu oft. Seine Charakterisierung von 'Interaktiven Objekten und Kunst im öffentlichen Raum' beispielsweise ist schon als kategorisierende Überschrift problematisch, denn was soll ein interaktives Objekt eigentlich sein? Gänzlich scheitert der Versuch einer Definition, wenn es heißt: "Im Grunde genommen kann schon das Auslösen eines gedanklichen Prozesses beim Betrachter eines Kunstwerks als Interaktion gesehen werden. D.h. gibt es mit jedem wahrgenommenen Kunstwerk eine interaktive Reaktion. In einer engeren, auf technische Interaktion gerichteten Definition gilt eine Arbeit dann als interaktiv, wenn die Interaktion durch eine physische Handlung des Rezipienten hervorgerufen wird." (188) Das Grundprinzip der Inter-Aktion, d.h. mindestens zweier Aktionen die aufeinander Bezug nehmen (seien dies nun Menschen und/oder Maschinen, gegebenenfalls vielleicht sogar Pflanzen oder geologische bzw. physikalische Prozesse) ist in der vorangegangen Definition nicht ansatzweise erfasst, obgleich eine Suche in Wikipedia schon geholfen hätte.

Die Darstellung verschiedener Künstler gelingt Lieser hingegen anekdotisch und spielerisch. Eine große Menge an teils banalen aber doch stets interessanten Informationen bietet auch dem "Experten" immer wieder neue Entdeckungen. Leider fehlen jedoch die Quellenangaben im Text fast gänzlich und die Bibliografie beschränkt sich auf meist veraltete und mitunter fragwürdige Quellenangaben. Wir haben es also mit einem Buch zu tun, das schön anzuschauen ist, mitunter Interessantes zu bieten hat, jedoch akademisch etwas unsauber ist. Für wen ist dies Buch geschrieben? Welche Absicht steckt dahinter? Sieht man einmal von Eigenwerbung für die eigene Galerie und den eigenen Kunstpreis (46) ab, muss die Frage grundlegender gestellt werden. Wem dient eine zunehmende Reihe von Coffee Tabel Books zur Medienkunst, in die sich jene von Lieser einreiht? Zu nennen wären u.a. Publikationen von Edward Shanken [2] oder von Joline Blais und Jon Ippolito. [3] Vorweg sei gesagt, dass es ein Verdienst ist, den englischsprachigen Publikationen nun eine deutschsprachige Hochglanz-Druckversion hinzugefügt zu haben, obgleich zu berücksichtigten wäre, dass es seit geraumer Zeit eine ganz exzellente zweisprachige Onlinepublikation zum Themenfeld 'neuer Medien' auf www.medienkunstnetz.de gibt. Diesem Vergleich muss sich eine neue Publikation stellen. Das "Medien Kunst Netz" - drei Schlüsselbegriffe sind hier syntaktisch gleichwertig nebeneinander gestellt anstatt eines reißerischen Titels - stellt sich dem Kernmedium des Digitalen, also dem Internet, indem es auf eine Internetpublikation setzt. Es bindet Bilder, Sound und Video sowie Hyperlinks direkt in den Text ein und verzichtet auf eine hierarchische Anordnung. Stattdessen operiert es mit Themenfeldern die eng ineinander verzahnt sind. Stichwortsuchen ermöglichen eine angemessene Recherche der wissenschaftlich anspruchsvollen Beiträge. Obgleich es wünschenswert wäre, dass diese Onlinepublikation, die derzeit auf einem Server des ZKM zwar einsehbar ist, aber nicht weitergeführt wird, eine Auffrischung erfährt, bietet sie doch einen guten Maßstab für derlei Publikationen. Wenn es also so ist, dass gut aufbereitete Informationen frei im Internet zugänglich sind und der Buchmarkt sich erst seit kurzem dafür erwärmen konnte, übersichtsartige Druckpublikationen nachzuliefern, die der neuen Medialität in keiner Weise gerecht werden, so ließe sich die alte Kritik an der Kulturindustrie, die nur am Kitsch interessiert ist, wiederholen. Die subversiven Elemente werden so portioniert, dass sie auch dem größten Ignoranten noch als Kultur verkauft werden können. Jene Adorno-Position, obgleich sie in ihrer Gültigkeit wenig eingebüßt hat, ist für eine Rezension jedoch wenig hilfreich. Interessanter ist die Frage, wie sich das Feld digitaler Kunst im Kunstbetrieb verhält. Erleben wir demnächst tatsächlich eine dotcom-Kunstblase im klassischen Kunstbetrieb, oder sind die Umwälzungen, die die Informationsrevolution mit sich bringt, vielleicht doch so stark, dass sich traditionelle Kulturpraxen vom Ausstellungs- und Kunstbetrieb bis hin zur Systematisierung und Vernetzung von Wissen radikal ändern müssen. Gilles Deleuze und Felix Guattari haben in den 90er-Jahren die Diskussion durch den Begriff des Rhizomes geprägt. Still geworden ist es um diesen Begriff im Medienrummel, dafür hält er Einzug in die wissenschaftliche Praxis. Man muss diese Position nicht teilen, dahinter zurückfallen sollte man aber auch nicht. Die synoptische Anordnung verschiedenster (digitaler) Kulturpraktiken in der symbolischen Form von Kunstkammern ist unzeitgemäß und keine Betrachtung.

Der strategischen Platzierung dieses aufwändig gedruckten Buches korrespondiert die Auswahl der Beiträge. Lieser gelang es, so genannte Pioniere der Computerkunst wie z.B. Frieder Nake und Manfred Mohr mit schönen persönlichen Zeugnissen zu gewinnen. Beiträge von Mark Tribe und Wolf Herzogenrath platzieren die 'digitale Kunst' nicht ganz uneigennützig im Kunstbetrieb. Erfrischend ist Tilman Baumgärtels Beitrag zur Netzkunst. Leider sind all jene Beiträge recht kurz und zuweilen anekdotenhaft. Dem neugierigen Leser wird dieses Buch eine Fülle von Informationen bieten. Die Kraft des Neuen, jener "Neuen Wege in der Kunst", scheinen jedoch nur gelegentlich in jenen kleinen Beiträgen durch.


Anmerkungen:

[1] Vgl. sehr prominent Lev Manovich: The language of new media, Cambridge / Mass. (u.a.) 2001.

[2] Edward A. Shanken: Art and Electronic Media, London (u.a.) 2009.

[3] Joline Blais: At the edge of art, London 2006.

Christoph Klütsch