Rezension über:

Eckhard Lessing: Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart. Band 3: 1945 bis 1965, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 523 S., ISBN 978-3-525-56955-9, EUR 90,95
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Rezension von:
Matthias Wolfes
Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Johannes Wischmeyer
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Wolfes: Rezension von: Eckhard Lessing: Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart. Band 3: 1945 bis 1965, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 12 [15.12.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/12/19860.html


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Eckhard Lessing: Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart

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Unverdrossen setzt der inzwischen emeritierte Münsteraner Theologe Eckhard Lessing sein Projekt einer historischen Gesamtdarstellung der deutschsprachigen evangelischen Theologie von 1870 bis zur Gegenwart fort. Die ersten beiden Bände sind 2000 und 2004 erschienen. Band 1 umfasst den Zeitraum von 1870 bis 1918, der zweite reicht bis 1945. Der hier zu besprechende dritte Band erörtert die zwei Jahrzehnte bis 1965.

Lessing hat sich neben einzelnen dogmatischen Themen schwerpunktmäßig mit der Geschichte der protestantischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigt. Frühere Arbeiten waren unter anderem der Theologie Karl Barths, der Dialektischen Theologie und der Geschichtstheorie Ernst Troeltschs gewidmet. Er gehörte aber auch zu den Gründungsherausgebern der Zeitschrift "Kirchliche Zeitgeschichte", die als internationale Halbjahresschrift für Theologie und Geschichtswissenschaft seit 1998 erscheint.

Mit der Theologiegeschichte krönt er nun sein wissenschaftliches Lebenswerk, und dementsprechend weit greifen Anspruch und Durchführung aus. Lessing scheut nicht den Vergleich mit Emanuel Hirschs "Geschichte der neuern evangelischen Theologie" (1949/54), der exzeptionellen Spitzenleistung hiesiger Theologiegeschichtsschreibung. Ähnlich wie Hirsch ist Lessings Position lutherisch inspiriert. Während jener aber die Entwicklung des theologischen Denkens gerade aus ihrer geschichtlichen Situierung heraus erschließen wollte, konzentriert Lessing sich monothematisch auf die theologische Theoriebildung. Konsequent - und getragen von einer tiefen kulturkonservativen Skepsis - werden sozialgeschichtliche oder politische Konnotationen zurückgestellt. Sie erscheinen zwar hier und da in den Horizontbeschreibungen, aber das Augenmerk ist viel zu sehr auf die Programme und Gedankengebäude der zahlreichen evangelischen Dogmatiker, Ethiker, Alt- und Neutestamentler, Praktischen Theologen, Kirchenrechtler und Missionswissenschaftler gerichtet, als dass es zu irgendwelchen Abschweifungen kommen könnte.

Die lutherische Prägung bringt Lessing selbst in eine signifikante Nähe zu etlichen der referierten Autoren, und immer wieder fließt dieser Umstand auch in die historische Würdigung ein. Helmut Thielicke etwa, ein heute nur noch wenig diskutierter, seinerzeit aber recht wirkungsvoller und in bürgerlichen Kreisen geradezu verehrter Verfasser großer Werke, gilt ihm als ein Theologe, der "mit Entschiedenheit gegenwartsbezogenes Denken (für den Menschen in der Krise) in Form strikter Gegenstandsorientierung zu seiner Sache gemacht hat" (209). An dieser exemplarischen Formulierung wird deutlich, was auch Lessing unter Gegenwartsbezug versteht: Eine Theologie, die auf die Probleme und Fragestellungen der mehr und mehr säkularisierten Wirklichkeit des modernen Menschen Bezug nehmen will, tut dies von ihrer spezifischen Aufgabenstellung her nur dann "sachgemäß", wenn sie "strikt" bei der "alten Wahrheit" bleibt und diese "dezidiert für Zeitgenossen zur Sprache bringt", nicht aber, wenn sie sich an diese Probleme verliert und permanent nur noch den eigenen Bedeutungsschwund reflektiert.

"Kritische Theologen" sind für Lessing solche, die sich "den in der Neuzeit zumal durch die zunehmende Verwissenschaftlichung eingetretenen Veränderungen stellen" (199). Die begrenzte Reichweite eines solchen eingezirkelten Zugriffs liegt auf der Hand. Und wenn auch sonst viel von "Herausforderungen" und "neuen Problemstellungen" die Rede ist, so wird die Dramatik des Wandlungsprozesses, dem die Theologie in der Moderne ausgesetzt ist, hier doch allenfalls mittelbar sichtbar.

In solchen, eher plakathaften Wendungen, wie sie sich über das gesamte Buch verteilen, kommt immer wieder das Selbstverständnis einer heute doch schon sehr antiquiert wirkenden theologischen Denk- und Sprechweise zum Ausdruck. Auf der anderen Seite aber ist das Konzept einer sachgemäß nur in ihrer Eigenwilligkeit agierenden Theologie, die sich geradezu prinzipiell quer zum Zeitgeist stellt, auch nicht einfach von der Hand zu weisen. Die Kritik trifft den Kern nicht, wenn sie Lessings Unternehmen einfach als Summe eines Lebenswerkes betrachtet, das von mittlerweile überholten Leitvorstellungen ausgeht. Vielmehr handelt es sich um ein durchaus mutiges intellektuelles Experiment, das als solches gewürdigt werden will.

Aus dem Buch ertönt auf jeder Seite die Stimme von gestern. Es ist jene - jedem damaligen Theologiestudenten unvergesslich nachklingende - Diktion des mit gutem Gewissen auf dogmatische Fragen zentrierten Theologieprofessors, der fernab aller "kontextuellen", sozialgeschichtlichen oder kulturwissenschaftlichen Interdisziplinarität seine Arbeit verrichtet. So wie dieser Professor sich wohl selbst sah, als mehr oder weniger zeitenthobenen Denker, so nahm er auch seine Vorgänger wahr: Theologen waren Theologen, das heißt sie lieferten Auslegungen und Erörterungen zu biblischen, dogmatischen oder ethischen Fragen, aber sie traten nicht als Verkörperung einer insgesamt prekären Situation von Religion und Kirche in der modernen Zeit auf.

In der seinerzeitigen Dominanz ist dieses Theologiemodell heute überwunden. Und dennoch gebührt ihm nach wie vor Achtung. Es ist von der Würde und dem Eigengewicht des theologischen Gedankens durchdrungen; es ist aufrichtig und konsequent. Lessing wehrt sich gegen die Forderung, Theologie müsse "transformiert" werden, wobei er darauf verweisen kann - auch das haben die zurückliegenden Jahrzehnte gezeigt -, dass auf dem neohistoristischen Weg Theologie in der Regel zu Theologiegeschichte und Dogmatik zu einer Hermeneutik religiös vermittelter "Selbstverständigungsprozesse" geworden ist.

Wie die beiden vorangegangenen Bände gliedert Lessing den Stoff nach Fachdisziplinen und Personengruppen. Alle wichtigen und halbwichtigen Autoren des Zeitraumes kommen vor. Das Buch hat lexikalischen Charakter und erreicht einen hohen Grad an thematischer Differenzierung. Von hier aus entgeht Lessing allerdings leider nicht einer naheliegenden Gefahr. Sie besteht darin, dass sich bei fortlaufender Lektüre und zunehmender Ansammlung von Material das Epochenbild immer mehr auflöst. Zu wenig wird nach verbindenden Fragestellungen gesucht, die in ein und derselben Zeit zum Beispiel sowohl die neutestamentliche Forschung wie auch die Praktische Theologie beschäftigt haben oder in denen der "Lutheraner im Horizont der positiven Theologie" neben einem solchen der "empirisch-kritischen Richtung" gestanden hätte. Es fehlt die Zusammenführung, der integrierende Blick. Nicht klar wird bei Lessing, trotz aller Akribie in der Einzelbeschreibung, von welchen übergreifenden thematischen Motiven die Theologie jener Zeit angetrieben wurde. Hier hätte man sich ein deutlich größeres Maß an Konstruktionskraft oder auch an synthetischer Souveränität gewünscht. Als gleichsam selbst schon historisches Dokument einer unbedingt ihrer Bestimmung als menschlicher Rede von Gott verpflichteten Theologie verdient Lessings Theologiegeschichte aber Anerkennung und Respekt.

Matthias Wolfes