Philip Ursprung: Die Kunst der Gegenwart. 1960 bis heute, München: C.H.Beck 2010, 128 S., ISBN 978-3-406-59111-2, EUR 8,95
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Wie gegenwärtig muss Kunst sein, um als Gegenwartskunst angesprochen werden zu können? Anders gefragt: Wann kann man eigentlich von Gegenwartskunst sprechen, was sind ihre zeitlichen Horizonte? Philip Ursprung vertritt in seinem Buch (welches sich in die Beck'sche Reihe "Kunstepochen" eingliedert) eine überraschende, auf den ersten Blick vielleicht irritierende Antwort: Gegenwartskunst sei "die Kunst der Industrienationen zwischen 1960 und heute". Denn diese sei "untrennbar mit der Globalisierung verbunden". Und erst "im Zusammenhang mit dem Phänomen der Globalisierung" werde, so Ursprung, "die paradoxe Situation besser verständlich, dass die Kunst der Gegenwart, die ja eigentlich ein flüchtiges Phänomen sein sollte [...], sich über eine Phase von ungefähr einem halben Jahrhundert erstreckt und sich von Jahr zu Jahr weiter ausdehnt." (9) Globalisierung ist demnach das Tertium comparationis eines mit über 50 Jahren doch recht weit angesetzten Zeitraums, dessen Kunst bekanntlich vielfältigste Ausprägungen kennt.
Philip Ursprungs Vorschlag entspricht mithin einer Sicht auf das Problemfeld Gegenwartskunst. Und sie entspringt einem dezidiert subjektiven Zugriff, den der Autor nicht nur in diesem Buch, sondern auch an anderer Stelle methodologisch mehrfach als "performative Kunstgeschichte" legitimiert hat. [1] So ist es denn auch das "Ich" des Autors, das es Ursprung gestattet (mit Verweis auf die eigene Biografie und eine Jugend in den ökonomischen Umbruchzeiten der 1970er-Jahre) Gegenwartskunst als ein Phänomen mit einer solch "auffällig langen Dauer" (11) in den Blick zu nehmen. Denn für Ursprung sind es grundlegende sozioökomische Bedingungen, die die Grenzen der Gegenwartskunst bestimmen. Ob seiner Perspektive allerdings eine eigene "longue durée" beschert sein wird, muss die Zeit erweisen. Durchaus denkbar, dass zukünftig andere Zäsuren gesetzt werden. Denn längst kann beispielsweise unter Gegenwartskunst nicht mehr ausschließlich die Kunst der "Industrienationen" verstanden werden. Dies aber spricht gar nicht gegen Ursprungs Sicht, die sich bewusst als Angebot begreift. Und um die Gegenwartskunst systematisch zu erfassen - gattungsübergreifend zumal -, bringt der Autor denn auch noch einen zweiten, durchaus nachvollziehbaren Parameter in Anschlag, nämlich die "Rolle des Publikums", das - im Gegensatz zu vormaligem Elitismus der Zeit vor 1960 - seit nunmehr etlichen Jahrzehnten die "Kunstwelt" in breiter Masse trage (13f.).
Vor diesem Hintergrund nun legt Philip Ursprung eine wirklich lesenswerte, da thematisch ansprechend gegliederte Überblicksdarstellung der Kunst seit 1960 vor - gewissermaßen vom "Happening" bis zum Diskurs um die "Multitude". Er beleuchtet die Fülle der Stile und Kunstformen eines knappen halben Jahrhunderts als Ausprägungen des "Verteilungskampfes" (49) um die Ressource Aufmerksamkeit. Damit bezieht der Autor nicht nur klug den allgemeinen sozio-ökonomischen Kontext, sondern gerade auch das institutionelle Kunstsystem mit in seine Betrachtungen ein. Der sich in der Kunst der 60er-Jahre vollziehende performative turn wird dabei genauso mit selektiv-exemplarisch vorgestellten künstlerischen Positionen besprochen, wie die institutionelle Ausdifferenzierung des Kunstsystems in den 70ern, der "Hunger nach Bildern" in den 80ern oder etwa die (Turbo-)Kapitalisierung des Kunstmarktes in den 90ern. Gewiss, Ursprungs Ausführungen, die vor allem auf die Herausarbeitung gesellschaftlicher und ökonomischer Zusammenhänge abzielt, ist nicht unanfechtbar. Natürlich könnte man etwa fragen, ob, wie behauptet, die Kunst der 1960er-Jahre wirklich eine genuin amerikanische war. Und natürlich könnte man einwenden, dass, indem Ursprung auf exemplarisch ausgewählte Künstler setzt, er erneut eine Heroen-Kunstgeschichte konstruiere und eine post-revisionistische Kanonisierung betreibe. Solche und ähnliche Einwände indes gehen am erklärten Anliegen des Buches vorbei, das darin besteht, im Einzelnen das Allgemeine und im Besonderen das Generelle aufzuweisen, mit allen Defiziten, die sich mit induktivem Vorgehen zwangsläufig verbinden. Das Buch will also gar nichts anderes sein als ein Überblick, indem es Stationen markiert, die durch die genannte sozialökonomische Perspektivierung zusammengebunden werden.
Kurzum: Philip Ursprungs Buch leistet in einem Abschreiten der langen Dauer der Gegenwartskunst, was man von knapp 130 Seiten nicht zwangsläufig erwarten darf (zumal in einem Format, das auf breiteste Leserschaft abgestellt ist, nämlich als eine Epochen-Darstellungen für Jedermann). Unter anderem entfaltet es in eindringlicher Weise die Kunst von fünf Dekaden vor dem Hintergrund jeweiliger politischer Ereignisse und soziokultureller Entwicklungen, bindet die Kunst also immer an ihre Kontexte rück, verortet sie in den Zeitläuften. Dass der Autor dabei bisweilen ins Raunen gerät, etwa wenn er Ed Ruschas Tankstellen-Fotos von 1963 attestiert, sie ahnten bereits, "dass sich ein Jahrzehnt später, nach der Erhöhung der Ölpreise, Schlangen von Autofahrern vor ihnen bilden werden" (31f.), ist dabei beileibe kein Makel, sondern gehört zur bewussten Grunddisposition des Buches, das sich rundum in den Dienst der Anschaulichkeit und Verständlichkeit stellt. Auch vermittelt es ein großes Problembewusstsein für systematische Fragen, die mit der Kunst und Kunstgeschichte der letzten Jahrzehnte zusammenhängen. Mehr aber noch löst es ein, was Ursprung sich selbst zu Aufgabe macht, wenn er schreibt: "Ich möchte den Leserinnen und Lesern die Orientierung erleichtern. Wenn es gelingt, vor allem die Jüngeren darunter anzuregen, sich auf diese Kunst einzulassen, hat mein Buch seinen Zweck erfüllt." (16)
Philip Ursprung erzählt seine Geschichte der Gegenwartskunst - ohne auf deren Ausschließlichkeit oder Allgültigkeit zu insistieren; er unterbreitet Angebote, besser zu verstehen, was sich in den letzten Jahrzehnten in der Kunst ereignet, entwickelt, verschoben und wiederholt hat, unterbreitet Interpretationsangebote, vertritt Thesen. Er belehrt nicht, sondern hilft zu begreifen. Es ist eine Sicht auf ein halbes Jahrhundert. Und dementsprechend wäre ganz falsch (und würde auch gar nicht dem Anliegen dieses Buchs entsprechen), "meine Kunstgeschichte", wie Ursprung sie nennt, kanonisieren zu wollen. Wohl aber gehört dieses anregende Buch als lesenswertes Propädeutikum in jeden Handapparat zur Kunst nach 1960, auf dass sich jeder Leser (s)ein Bild der Kunst seit 1960 mache.
Anmerkung:
[1] Siehe u.a. Philip Ursprung: Performative Kunstgeschichte, in: Verena Krieger (Hg.): Verena Krieger: kunstgeschichte & gegenwartskunst. vom nutzen und nachteil der zeitgenossenschaft, Köln / Weimar / Wien 2008, 213-226.
Lars Blunck