Helmut Schmiedt: Karl May oder Die Macht der Phantasie. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2011, 368 S., 29 Abbildungen, ISBN 978-3-406-62116-1, EUR 22,95
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An Karl-May-Biographien herrscht wahrlich kein Mangel: Seit der Jahrtausendwende sind in Deutschland gleich mehrere der Vita des sächsischen Erfolgsschriftstellers gewidmete Monographien - teilweise handelt es sich um aktualisierte Neuauflagen älterer Lebensbeschreibungen - erschienen und Mays sich am 30. März 2012 zum hundertsten Mal jährender Todestag hat jüngst drei weitere Biographen veranlasst, ihre Karl-May-Expertise einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Fast könnte der Eindruck entstehen, die literaturwissenschaftlichen und historischen Bemühungen um den Erfinder von Winnetou, Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar nähmen in dem Maße zu, in dem das Interesse einer jüngeren Leserschaft an dessen Romanen schwindet.
Zu den erwähnten kürzlich veröffentlichten Biographien zählt auch jene des Germanisten und ausgewiesenen Karl-May-Spezialisten Helmut Schmiedt. Sie beruht teilweise auf einer früheren Studie Schmiedts ("Karl May. Leben, Werk und Wirkung", 3. Aufl. 1992), integriert jedoch neuere Forschungsergebnisse - etwa zu den zahlreichen juristischen Prozessen, in die May verwickelt war - und setzt Schwerpunkte, die sie insbesondere für ein philologisch interessiertes Publikum interessant erscheinen lassen. In chronologischer Ordnung präsentiert das Buch die entscheidenden Etappen eines ungewöhnlichen Lebenswegs: Von den äußerst bescheidenen, durch die Erfahrung sozialen Scheiterns geprägten Anfängen über den gegen Ende des 19. Jahrhunderts endlich erreichten literarischen und ökonomischen Erfolg und die das letzte Lebensjahrzehnt überschattenden publizistischen und juristischen Auseinandersetzungen bis hin zu Mays prekärem Nachruhm spannt Schmiedt den Bogen. Dabei geht es ihm vor allem darum, für die Wahrnehmung Karl Mays konstitutive Diskrepanzen zu reflektieren, etwa jene zwischen dem Autor ästhetisch anspruchsvoller Schilderungen und dem massentauglichen Volksschriftsteller oder jene zwischen dem inspirierten Phantasten und Idealisten und dem geschäftstüchtigen Vermarkter seines literarischen Talents. Den Kristallisationspunkt der Beschäftigung mit May bildet, wie der Titel der Biographie verrät, dessen Phantasie, jene Phantasie, die für die Brüche im Leben des in seinen akademischen Ambitionen gescheiterten ehemaligen Insassen einer Haftanstalt von ebenso entscheidender Bedeutung war wie für dessen erschriebenen Ruhm und dem damit verbundenen gesellschaftlichen Aufstieg. Sie ist der Raum, in dem May jene literarischen Rollenmodelle entwickelt, die ihm als Vorlage für die eigene Vita dienen sollten; sie bildet das Bindeglied zwischen realer Erfahrung und dichterischer Imagination, zwischen Leben und Werk, einem Werk, dem Schmiedt derart viel Raum gewährt, dass seine Ausführungen bisweilen eher wie die Biographie des Mayschen Œuvres anmuten als diejenige seines Schöpfers.
Die in die Darstellung integrierten scharfsinnigen Werkinterpretationen bilden nicht das einzige Spezifikum des Buches. Schmiedts Biographie zeichnet sich gegenüber denjenigen seiner Konkurrenten auch dadurch aus, dass sie in überzeugender Weise zu zeigen vermag, in welchem Maße sich das Phänomen 'Karl May' mediengeschichtlichen Umbrüchen verdankt. Die einen hohen Bedarf an geeigneten Texten generierende Expansion des Zeitschriftenmarktes (105f.), die Herausbildung neuer, primär der Unterhaltung dienender literarischer Genres, welche der äußerst vielseitige Autor May sich rasch zu eigen machte (117ff.), die Etablierung einer modernen Unterhaltungsindustrie, deren Bedürfnisse May in seiner schriftstellerischen Arbeit und in den Modi seiner Selbstinszenierung in geradezu virtuoser Weise erfüllte (149f.) - sie alle bilden die Rahmenbedingungen einer beispiellosen literarischen Karriere und eines Prosawerks, dessen Wirkung auch nach Mays Tod anhält. Dem Nachleben Karl Mays widmet Schmiedt ein eigenes, umfangreiches Kapitel, in dem er kenntnisreich und differenziert die vielfältigen Anverwandlungen eines Romanuniversums rekapituliert, dessen Strahlkraft erst in jüngerer Zeit zu verblassen scheint.
Den Protagonisten seiner Biographie schildert Schmiedt mit distanzierter Sympathie. Mays Hang zu "Schwarz-Weiß-Konstellationen" (32), der Fleiß und zugleich die Unbekümmertheit, mit der dieser seine Darstellungen eines wilden Westens und abenteuerlichen Ostens aus unterschiedlichsten Quellen kompiliert (99ff.), sein schillernder Charakter, der sich nicht zuletzt der Fähigkeit verdankt, in immer neue Rollen zu schlüpfen (138ff.), die in ihrer Widersprüchlichkeit nur schwer einzuschätzende religiöse und politische Haltung des in seinen letzten Lebensjahren zunehmend missionarisch agierenden Poeten und Publizisten werden umsichtig und mit klarem Blick für das gleichermaßen Bizarre und Anrührende von Mays öffentlichem Auftreten analysiert.
Dass Schmiedt den Fokus konsequent auf die Person und vor allem das Werk Karl Mays richtet, setzt seiner Deutung allerdings Grenzen. So werden etwa die Mechanismen eines während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasant expandierenden publizistisch-literarischen Massenmarktes primär aus der Perspektive des Autors reflektiert. Die Erfahrungswelt der zeitgenössischen Leser und die daraus resultierenden Erwartungshaltungen geraten dabei aus dem Blick und damit auch einige der möglichen Gründe für Mays bemerkenswerten Erfolg. Zwar deutet Schmiedt an, dass die Auswanderung zahlreicher Deutscher in die USA das Interesse an den Nordamerika-Romanen beflügelt haben könnte (94), und vermutet einen Zusammenhang zwischen der europäischen Kolonialpolitik und der Vorliebe breiterer Publikumsschichten für orientalische Erzählstoffe (96); eine vertiefte Auseinandersetzung mit den historischen, sozialen und ökonomischen Kontexten, die für Mays Popularität wohl nicht weniger signifikant waren, als dessen schriftstellerische Begabung sucht der Leser vergeblich. Problematisch erscheinen außerdem die Passagen, in denen Schmiedt der Frage nachgeht, weshalb es May gelang, die Illusion, seine Erzählungen spiegelten autobiographische Erlebnisse wider, über längere Zeit aufrecht zu erhalten. Dringlicher als die Frage nach der "psychischen Verfassung" des Autors (157) scheint mir in diesem Zusammenhang die nach der Rezeptionshaltung der Adressaten, welche der Suggestion eines realen Hintergrunds der von May imaginierten Welten übrigens womöglich in weit geringerem Maße erlagen, als dies Schmiedt unterstellt. Insofern ist fraglich, ob der sich nach 1900 abzeichnende Rückgang der Verkaufszahlen wirklich in erster Linie der Erkenntnis, einem lügenhaften Autor aufgesessen zu sein, geschuldet war (224).
Dennoch: Schmiedt hat eine gut lesbare Biographie vorgelegt, die durch ihre wissenschaftliche Kompetenz besticht und das überaus facettenreiche Bild eines Autors entwirft, der auch heutige Leser zu überraschen vermag. Ob Karl May mittlerweile wirklich den Rang eines "Klassiker[s] der deutschen Kulturgeschichte" beanspruchen kann (326), sei dahin gestellt; dass er zu den faszinierenden Gestalten des 19. Jahrhunderts gehört, hat Schmiedts Biographie einmal mehr deutlich gemacht.
Silvia Serena Tschopp