Robert Maier (Hg.): Akustisches Gedächtnis und Zweiter Weltkrieg, Göttingen: V&R unipress 2011, 233 S., ISBN 978-3-89971-585-9, EUR 31,90
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Zeitreisen zu verklungenen Geräuschen locken nicht erst in jüngster Zeit. Dennoch bescheinigte Jürgen Müller der Historikergilde zu Recht eine gewisse kognitive Einseitigkeit. Gerade weil es hermeneutischer Konzepte für die Quellenarbeit und für die zweckdienliche Rekonstruktion von früher einmal Gehörtem noch bedarf, ein "aural turn" ("auditoral" , "auditory" oder "auditiv", "akustik" oder "acoustik" turn) in der Geschichtswissenschaft ist nur zu unterstützen; akustische Phänomene und ihre Funktion bzw. ihre Wirkung in bestimmten historischen Kontexten verdienen größere Aufmerksamkeit. [1] Diese darf sich nicht auf Sprachen- und Musikgeschichte beschränken, sie muss im weitesten Sinne Klang- bzw. Geräuschereignissen, -erlebnissen, -erfahrungen und -gedächtnissen mit all ihren Wechselwirkungen gelten. Dabei interessieren neben den vergangenen die heutigen Wirkungen, denn wichtig ist auch, wie sich das vom Historiker (Re)Konstruierte heute in Wort und Laut anhört. Von interdisziplinärer Klangwissenschaft und akustischer Kulturgeschichte ist die Rede, wozu auch technik- und kommunikationsgeschichtliche, mentalitäts-, sinnes-, milieu- und verhaltensgeschichtliche Fragestellungen gehören.
Am Beginn einer jeden Neugewichtung im Fach muss es wohl so sein: Es braucht überzeugende Themenbeispiele. Beim vorliegenden Band fiel die Wahl auf ein weltweit "unüberhörbares" Großereignis, den Zweiten Weltkrieg. Sinneswahrnehmungen in Kriegen gehören heute in das Themenrepertoire diverser Fächer. Das Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig, an dem der Herausgeber Robert Maier tätig ist, steht für einen Strang der kombinierten Geschichte-Akustik-Forschung, für die auditiv ansprechende Vermittlung von Geschichte. Es betreibt ein Forschungsprojekt zum akustischen Gedächtnis. Anfang 2008 lud es auf Anregung und gemeinsam mit der russländischen Verwaltungsakademie in Wolgograd und der dortigen Administration zu einer deutsch-russischen Konferenz "Akustisches Gedächtnis und Zweiter Weltkrieg" ein, die im Rahmen der offiziellen Feierlichkeiten zum Jahrestag der Stalingradschlacht 1942/43 um einen spezifischen gemeinsamen Rückblick bemüht war. 2009 gab das Institut in russischer Sprache in einem Wolgograder Verlag bereits die Konferenzbeiträge heraus. [2] Nun erschienen bearbeitete Textversionen in Deutsch, ergänzt um weitere Aufsätze, u.a. aus Polen, Israel und Japan. Gefragt war nach dem, "was die Menschen 'im Ohr' haben, wenn sie sich an den Zweiten Weltkrieg erinnern, und dem, was davon in der Geschichtsschreibung aufgegriffen wird" (19).
Das Schwergewicht auf Hörgedächtnis legend, holte sich der Herausgeber des Bandes prominente Unterstützung: Aleida Assmann schrieb ein kleines Vorwort. Das allerdings wirkt blass. Unter Berufung auf Reinhart Koselleck erklärt Assmann, das akustische Gedächtnis behalte "unter besonderen Umständen" eine bemerkenswerte "sinnliche Wahrheitspräsenz". Sie meint, akustischen Eindrücken sei mehr Prägekraft zuzugestehen, sie würden beständiger als andere Eindrücke fortbestehen. Genau dieser Wirkungsunterschied zwischen akustischem und visuellem oder sonstigem Gedächtnis (Stefan Marks´ Beitrag unterstreicht ihn unter Hinweis auf neuro-psychoanalytische Forschung) wäre aber zunächst für das historiografische Anliegen zu problematisieren gewesen. Assmanns Gewissheit könnte unserem noch dürftigen Wissen um das Hörgedächtnis geschuldet sein. Erfreulicherweise bleibt Robert Maier hier vorsichtig. Seine Einführung präsentiert die Ausgangsthese, wonach "akustische Elemente das Gedächtnis in ähnlicher Weise wie visuelle strukturieren" (13). Davon leitet er Fragen zum Verhältnis zwischen individuellem und kollektivem akustischen Gedächtnis ab, zu Identitätsfindung, zu Mustern und Ikonen, Reaktivierungs- und Weitergabemodi.
Wie lassen sie sich am historischen Beispiel von kriegsbedingten Hörerlebnissen beantworten? Die Betrachtung akustischer Kriegsrelikte im binationalen Vergleich muss 2008 auf Schwierigkeiten gestoßen sein, denn von den russischen Referenten, durchweg DozentInnen und ProfessorInnen mit durchaus relevanten Vortragsthemen, findet sich kein einziger im vorzustellenden Band. Dafür erscheint ein neuer Beitrag aus St. Petersburg. Maier beschrieb zwar an anderer Stelle die überstürzte Vorbereitung dieser Konferenz. [3] Inwieweit dabei - durchaus wissenschaftsrelevante - Meinungs- oder Qualitätsunterschiede zu Tage traten, bleibt indes offen.
Der Band von 2011 bietet jedenfalls ganz anderes als die Konferenz von 2008 und überzeugt dennoch nicht so recht. Er wirkt zu heterogen. Einige Theorieversuche leiden ganz offensichtlich an der noch bruchstückhaften empirischen Basis. So bescheinigt Rüdiger Ritter (Berlin) dem akustischen Gedächtnis eine "spezifische Eigenschaft" (33) - analog zu Assmann und ebenso wenig überzeugend. Seine Anregung, im Kontext von Krieg nach verfestigten Freund- und Feind-Hörbildern zu fragen, macht Sinn. Doch Ritters Versuch, etwa das sowjetische Musikgedächtnis bezüglich Ausformung, Instrumentalisierung und kunstpolitischer Lenkung als totalitäres mit dem nazistischen gleich-, und von ihm (das "zum Zweck des politischen Machterhalts" geformt war) das bundesdeutsche durchweg positiv abzusetzen, zeigt nur, wie wenig die Totalitarismus-These für Forschungen taugt. Bahodir Sidikov (Braunschweig) wollte wissen, wie ein (angehender) sowjetischer Dichter im Krieg Klangerlebnisse aufnahm. Seine Textzitate sind von seltsamen Behauptungen begleitet ("Im Krieg [...] findet ja eine starke sprachliche Abwertung statt." [85]); er lotet das literarische Denkangebot, so zum spezifischen Schützengrabengehör der Soldaten oder zum Thema Stille nach der Schlacht, nicht annähernd aus; das Tonerlebnis trennt er nicht von dessen literarischer Verwertung. Der Beitrag von Zaur Gasimov (Mainz) hat eine recht schmale und zugleich heterogene Basis. Über Gebühr verallgemeinernd präsentiert er Erinnerungen dreier kaukasischer Wehrmachtsangehöriger an allerlei im Kampf, in Gefangenschaft und bei Kriegsende Gehörtes. Einige Beiträge sind sehr lesenswert, aber in diesem Band schlecht platziert: Henryk Wanieks (Warschau) aufschlussreiche "Gedanken zum 'Überfall auf den Sender Gleiwitz'" und Takumi Satos (Japan) Text zur Rundfunkrede des Kaisers am 15. August 1945 nehmen nur begrenzt Bezug zum Akustik-Thema. Yaron Jean (Tel Aviv) bietet eine feuilletonistische Betrachtung zu Geräuschen des Luftkriegs, die unter den Möglichkeiten des bekannten Quellenmaterials bleibt. Mit Gedächtnis hat wiederum der fundierte Text des Feldpostforschers Thomas Jander (Berlin) nichts zu tun. Er stellt auf Tonquellen gespeicherte private Briefe aus deutschen Fronttonstudios sowie vom DRK in Lazaretten aufgezeichnete, halböffentliche "sprechende Feldpostbriefe" ausführlich vor, deren Wirkungsgeschichte noch unerforscht ist.
Als anregende Beiträge stechen hervor: Tat´jana Voroninas und Il´ja Utechins (St. Petersburg) Suche nach "Tonspuren der Leningrade Blockade" in diversen Erinnerungen. Sie entdeckten einerseits die Bedeutung traumatisch erfahrener Töne und Laute, andererseits die häufige Verwendung von Lautbeschreibungen gerade in bildmalerisch-literarischen Rekonstruktionen. "Klanglandschaften" in Erinnerungsberichten wertet auch Ramona Saavedra Santis (Berlin) im Ergebnis langjähriger Beschäftigung mit russischen Zeitzeugen aus. Ihre Schlussfolgerungen sind erfreulich pointiert: "Im Kontext des Krieges dominieren die Beschreibungen von negativ konnotierten Klängen"; obgleich Spiegel meist traumatischer Lebenslagen, erleichtern Tonbeschreibungen im lauten Erinnern die Last der Emotionen; bei der Hausbildung des Gruppengedächtnisses weisen auditive Erinnerungen "eine geringere Affinität zum Sinnbildcharakter" als visuelle auf (50f.). Frank Möller (Greifswald) und Jürgen H. Bellinskies (Braunschweig) geben Erfahrungen bei der Nutzung von Tondokumenten im Unterricht weiter.
Doch zurück zum unterlassenen interkulturellen Hörgedächtnis-Vergleich. Ich empfehle als Ausgangspunkt die Beobachtung, dass "Hören" im Alltagsrussischen nicht immer eine auditive Sinneserfahrung meint. Man fragt: "Hörst Du, wie es riecht?"
Anmerkungen:
[1] Jürgen Müller: "The Sound of Silence". Von der Unhörbarkeit der Vergangenheit zur Geschichte des Hörens, in: Historische Zeitschrift 292 (2011), Heft 1, 1-29.
[2] Nachdem die Konferenz kurzfristig neu überschrieben worden war ("Die Stalingrader Schlacht im historischen Gedächtnis und moderne Kommunikationstechnologien") erschien der Tagungsband unter dem Titel "Pamjat' o Vtoroj mirovoj vojne v sovremennych kommunikativnych technologijach", pod. red. Maiera i Slyškina, Volgograd 2009 g.
[3] Robert Maier: Akustisches Gedächtnis und Zweiter Weltkrieg - deutsch-russische Konferenz in Wolgograd, URL: http://www.gei.de/fileadmin/Publikationen/Bulletin/Bulletin_4/EB_04_10_Maier.pdf
Elke Scherstjanoi