Julia Landau / Enrico Heitzer (Hgg.): Zwischen Entnazifizierung und Besatzungspolitik. Die sowjetischen Speziallager 1945-1950 im Kontext (= Buchenwald und Mittelbau-Dora Forschungen und Reflexionen; Bd. 2), Göttingen: Wallstein 2021, 335 S., 3 Kt., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3201-0, EUR 28,00
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Zu den erfolgreichen deutsch-russischen Kooperationsprojekten der 1990er Jahre gehörte das von Lutz Niethammer und Alexander von Plato initiierte Erschließungs- und Forschungsprojekt zu den sowjetischen Internierungen in der SBZ/DDR 1945 bis 1950. Das Ergebnis, zwei Sammelbände, gilt als Standardwerk zu den seither so genannten "Speziallagern" [1]. Es folgten Studien, die aus dem Material schöpften, etwa von Natalja Jeske, Bodo Ritscher und Andreas Weigelt.
Das zu rezensierende Buch stellt Neues vor und reaktiviert die Debatten um die Deutung der Lager. Denn die "allgemeinen Feststellungen sind [...] nur sehr exemplarisch empirisch unterfüttert worden, eine tiefenscharfe Analyse, die den örtlichen Kontext vor und nach 1945 und das Vorgehen sowjetischer Sicherheitsorgane im Kontext anderer, zum Teil damit in Konflikt stehender sowjetischer Besatzungsinteressen in den Blick nimmt, steht noch aus" (20). Strittiges zieht sich bis in den vorliegenden Sammelband. Die Herausgeber beklagen zwar, dass die wissenschaftliche Arbeit etwas eingeschlafen ist. Doch im Vergleich zu anderen Forschungsfeldern der ostdeutschen Nachkriegsgeschichte steht die Speziallagerforschung nicht schlecht da. Sie verstand und versteht es, die zugänglichen russischen Quellen, die inzwischen nicht wesentlich mehr geworden sind, gemeinsam mit der lokalen deutschen Geschichts- und Gedenkstättenarbeit, mit biografischer Forschung und Oral History zu verknüpfen. Noch immer sind namhafte Institutionen beteiligt, wie das Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung und die Gedenkstätten Buchenwald und Sachsenhausen. Aus letzteren heraus wuchs die Idee zum Sammelband, dessen Erscheinen 2021 eine Konferenz begleitete.
Der Titel des Buches sowie sein Aufbau hätten weiteres Nachdenken verdient, das Anliegen selbst ist zeitgemäß. Mehrere Texte machen das Buch lesenswert. Nach einer etwas zu weitläufigen Einleitung zum Jahr 1945 als europäischer Zäsur (Jost Dülffer) trifft schon der zweite, in vergleichender Perspektive angelegte Beitrag von Andrew H. Beattie ins Schwarze des Deutungsstreits, der die Idealisierung westlicher Internierung kritisiert. Beim Vergleich der Zonen beziehungsweise Besatzungsmächte zeige sich eine bei Kriegsende überwiegend von Gemeinsamkeiten geprägte Politik gegenüber NS-Herrschaftsträgern. Internierung habe auch in der SBZ in erster Linie der Entnazifizierung gedient - und nicht dem Stalinismus-Import. Weitere thesenartige Befunde zu Vorgehens- und Verfahrensaspekten der Internierung tragen diesen anregenden Beitrag, der mit einigen langlebigen Fehleinschätzungen aufräumt. In dem Zusammenhang erscheinen die Beiträge von Jörg Morré, "Gulag auf deutschem Boden?", und von Galina Ivanova zum sowjetischen Lagersystem in der Nachkriegszeit ungünstig platziert. Letztere liefert viel Bekanntes. Die ominöse Zuordnung der Speziallager in die GULag im August 1948, die letztlich nicht umgesetzt wurde, wird von ihr kaum problematisiert. Morré präsentiert wichtige Daten dazu (wie zum Gesamtgeschehen) und Erklärungsangebote.
Die Beiträge einer zweiten Betrachtungsebene (Lageralltag, Verbindungen zur Außenwelt) und einer dritten (Einzelschicksale) hätten gebündelt werden sollen und so den Erkenntnisgewinn vergrößert. Indes, einige Texte zu Teilaspekten schlagen selbst den Bogen zur großen Politik und zur Weltlage. Die Herausgeber deuten diese absichtsvolle Gestaltung im Buchtitel an und praktizieren sie selbst: Enrico Heitzer im Beitrag zum Speziallager Sachsenhausen "im Kontext der interalliierten Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechern" (121); Julia Landau in Texten zur Internierungspraxis am Beispiel Altenburg und zum Hungertod im Speziallager Buchenwald. Gerade die Argumente, die den Kontext des Stalinismus beschwören und auf die politischen Akteure als typisch stalinistische Funktionäre abheben, überzeugen aber wenig. Neue, konkrete Aussagen zu den Lagern mit theoretischen, begriffsklärenden Ausführungen zur Makrogeschichte zu kombinieren, bleibt oft ohne Gewinn. Es sei "die Versorgung in den Speziallagern einzuordnen in die Wirkungsmechanismen der stalinistischen Diktatur", schreibt Julia Landau (209), woran nicht zu zweifeln ist. Wenn sie das dann aber ausführt und mit den persönlichen Interessen des SMAD-Vizechefs Serov argumentiert, der mit Lebensmittellieferungen aus Ostdeutschland in die UdSSR Stalins Wohlwollen erheischte, dann ist das zu simpel. Es ist dies übrigens die Argumentationslogik von Nikita V. Petrov, der auch in diesem Buch als Serov-Experte nicht fehlen darf. Sein Beitrag beruht auf seiner bekannten Ansicht, dass die Politik Serovs im Auftrag des NKVD/MVD und seines Nachfolgers vom MGB in der SBZ "als soziale Säuberung der deutschen Gesellschaft und eine Wiederholung der stalinistischen Methoden aus dem Jahr 1937 gelten" kann (218). Auch dieser Text hätte seinem Zuschnitt nach besser an den Beginn des Bandes gepasst.
Blickerweiterung und partielle Korrektur belegen die Beiträge von Helga Schatz zu den Anfragen und Gesuchen von Angehörigen der Internierten und von Andreas Weigelt zu den Sowjetischen Militärtribunalen. Letzterer fasst die Kernaussagen einer 2015 veröffentlichten Studie zusammen [2], die Urteilsbegründungen und Hintergründe der rund 4500 Todesurteile gegen Deutsche analysierte. Ein Großteil der Verurteilten passierte die Speziallager. Weigelts Recherchen zufolge ergingen von 1944 bis 1947 70 Prozent der bislang nachweisbaren 3001 Todesurteile wegen des Vorwurfs von NS-Verbrechen, 2542 Urteile wurden vollstreckt. Er skizziert Quellenlage und Vorgehensweise bezüglich dieses Befundes, der in seiner Bedeutung für die deutschlandpolitischen Grundaussagen sowjetischer Besatzung noch immer unterschätzt ist. Sjoma Liederwald geht den Schicksalen Potsdamer Gestapo-Beamter im Speziallager Sachsenhausen nach und zeigt Unstimmigkeiten bei der Deutung der sowjetischen Verfolgungs- und Entlassungspraxis auf. Anne Kolouschek präsentiert Material zu Morbidität und Mortalität in den Lagern Mühlberg und Bautzen. Natalja Jeske beschreibt die Geschichte des Lagers in Neubrandenburg-Fünfeichen vom Stalag zum Speziallager. Als einziges westliches Beispiel für Internierung wird das Lager Sandbostel (Britische Zone) vorgestellt. Andrea Genest skizziert die "Entnazifizierung mit begrenzter Reichweite" (81) durch Internierung und Spruchkammerverfahren nur knapp. Dieser Text hat wohl eher Alibifunktion.
Ein Viertel des Buches ist der Geschichtsdebatte gewidmet. Kai Cornelius, Andrew Beattie, Wolfram von Scheliha und Norman Warnemünde stellen die Forschung in alte und neue politische Zusammenhänge und schreiben gegen tradierte Narrative an. Die dokumentierte Abschlusskonferenz namhafter Historiker in Weimar muss 2014 oder 2015 stattgefunden haben (die Herausgeber vergaßen, das zu erwähnen). Das Buch ist nun selbst Markstein eines produktiven Streits - in Niethammers Sinne, aus mehrheitlich linksliberaler Position.
Anmerkungen:
[1] Alexander von Plato (Hg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Bd. 1: Studien und Berichte, Berlin 1998; Ralf Possekel (Bearb.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Bd. 2: Sowjetische Dokumente zur Lagerpolitik, Berlin 1998. Vgl. auch Alexander von Plato: Sowjetische Speziallager in der Sowjetischen Besatzungszone 1945 bis 1950. Rückblicke auf ein Pionierprojekt, in: Detlev Brunner / Elke Scherstjanoi (Hgg.): Moskaus Spuren in Ostdeutschland 1945 bis 1949. Aktenerschließung und Forschungspläne, Berlin / Boston 2015, 59-65.
[2] Andreas Weigelt u. a. (Hgg.): Todesurteile sowjetischer Militärtribunale gegen Deutsche (1944-1947). Eine historisch biografische Studie, Göttingen 2015.
Elke Scherstjanoi