Lukáš Fasora / Jiří Hanuš / Jiří Malíř (Hgg.): Sozial-reformatorisches Denken in den böhmischen Ländern 1848-1914, München: Martin Meidenbauer 2010, 420 S., ISBN 978-3-89975-192-5, EUR 59,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der vorliegende Sammelband wurde von drei Wissenschaftlern der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität in Brünn (Brno) herausgegeben. Das Buch dient der Einbindung der tschechischen Historiografie in die gesamteuropäische Diskussion über die soziale Frage (22). Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die böhmischen Länder zu dem am stärksten industrialisierten Teil des Habsburgerreiches wurden, ergaben sich auch hier die mit diesem Prozess stets verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Parallel zur Sozialgesetzgebung des österreichischen Staates erarbeiteten vor allem zeitgenössische Denker Lösungsvorschläge und Ansätze für Sozialreformen. Die Herausgeber bemerken in ihrer Einleitung, dass dieser Forschungsgegenstand in der tschechischen Historiografie lange Zeit überwiegend aus marxistischer Perspektive erforscht und anschließend vernachlässigt worden sei. In diesem kultur- und mentalitätsgeschichtlich konzipierten Band werden die einschlägigen bürgerlichen Theoretiker hingegen ausführlich mit in Betracht gezogen.
Gegliedert in fünf Blöcke werden insgesamt sechzehn sozialreformerische Denker näher vorgestellt. Der erste Block betrachtet die konservativen Denker der traditionellen ländlichen Gesellschaft. Obgleich Milan Hlavačka in seinem Beitrag über die traditionellen, vormodernen Formen der sozialen Sicherungsordnung die Frage stellt, warum diese Ordnung keine großen Sozialtheoretiker hervorgebracht habe, untersucht Zdeněk Bezecný im nächsten Aufsatz trotzdem Friedrich von Schwarzenberg als sozialen Denker. Die vier weiteren Blöcke beschäftigen sich mit katholischen Sozialtheoretikern, fortschrittlich orientierten Gelehrten, Unternehmern und praktisch denkenden Politikern sowie Beamten. Im Gesamtzusammenhang des Bandes treten die Fallstudien zu lokal oder regional bedeutenden Personen besonders hervor. In ihnen wird konkretisiert, wie Unternehmer oder Verwaltungsträger vor Ort Lösungsvorschläge ausarbeiteten und so das soziale Denken in lokalen Projekten praktisch umsetzten. Die jeweiligen lokalen Bedingungen werden immer wieder neu dargelegt und in das Gesamtthema der sozialen Frage eingeordnet.
Die Verfasser gestalten ihre Beiträge auf je eigene Weise, was eine heterogene Sammlung ergibt. Martin Rája und Jan Županič haben beispielsweise Biografien über Alois Mikyška beziehungsweise Jaromír Freiherr von Mundy verfasst. In ihren Beiträgen werden diese Protagonisten allerdings nicht sehr umfassend in den größeren Kontext sozialreformatorischen Denkens in den böhmischen Ländern eingeordnet. Im Gegensatz dazu richtet sich der Beitrag Jiří Štaifs über Tomáš Masaryk gerade auf die wissenschaftliche, philosophische und diskursive Debatte um 1900. Masaryks Ansichten zur sozialen Frage und seine Auseinandersetzungen mit anderen Gesellschaftsphilosophen und -theoretikern zu diesem Thema werden detailliert analysiert. Damit kann Štaif Masaryk im zeitgenössischen europäischen Diskurs verorten und seine Argumente in den historiografischen Kontext einordnen.
Der Umstand, dass die soziale Frage in den böhmischen Ländern neben den Problemen der Industriearbeiterschaft auch die der Landwirtschaft und des Gewerbes einbeziehen musste und immer eng mit der nationalen Frage verknüpft war, wird in der Einleitung als Spezifikum der böhmischen Länder identifiziert. Aus den einzelnen Beiträgen wird deutlich, dass schon die zeitgenössischen sozialreformerischen Denker dieser Ansicht waren, auch wenn die Jungtschechen Karel Kramář und Václav Šílený die soziale Frage in einem anderen nationalen Kontext sehen mussten als der deutsche Liberale Otto Lecher. Diese für die böhmischen Länder in den letzten Jahren der Habsburgermonarchie wichtige Thematik hätte hier ausführlicher thematisiert und reflektiert werden sollen. Leider fehlt dem Sammelband eine Synthese oder Schlussbetrachtung der Herausgeber, in der die große Vielfalt an Ansätzen zusammengefasst und gedeutet würde.
Die im Buchtitel enthaltene geografische Eingrenzung "in den böhmischen Ländern" wird nicht spezifiziert und wirft ein paar Fragen auf. Es scheint so, als ob Denken und Handeln der zu betrachtenden Theoretiker unbedingt weiterhin auf die böhmischen Länder bezogen sein müssten. Da die Sozialpolitik in der Region damals weitgehend in Wien gestaltet wurde, waren mehrere der behandelten Personen dort als Reichsratsabgeordnete tätig. Sozialreformer aus den böhmischen Ländern, die sich eher in Österreich oder ganz Europa einen Ruf erwerben konnten, werden völlig außer Acht gelassen. Natürlich gibt es keine Forschungslücken hinsichtlich des sozialreformatorischen Denkens eines Karl Kautsky oder Karl Renner; wegen der möglichen Vernetzung ihres Denkens in den böhmischen Ländern wäre ihre Einbeziehung in den vorliegenden Band aber wünschenswert gewesen.
Zu Recht wird angedeutet, dass das Thema des Bandes sich besonders gut mit der aktuellen Erforschung der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert verbinden lässt (21). Ansätze dazu sind immer wieder dort zu spüren, wo die staatliche Sozialpolitik hinter den privaten oder unternehmerischen Bemühungen engagierter Bürger zurückfiel. Leider werden dieses Themenfeld und seine Forschungsmethodik nicht systematisch ausgearbeitet, obwohl sie die vielversprechendste Perspektive für weitere Forschungen bilden.
Dem deutschsprachigen Publikum bietet das Buch wichtige neue Erkenntnisse in Bezug auf die Verhältnisse und Diskussionen in den böhmischen Ländern. Der besondere Mehrwert der Publikation liegt in der Verknüpfung der gesamteuropäischen mit der tschechischen Forschung zur sozialen Frage und in der Bereitstellung neuer Forschungsperspektiven für die tschechische Historiografie.
Kristian Mennen