Juliane Fürst: Stalin's Last Generation. Soviet Post-War Youth and the Emergence of Mature Socialism, Oxford: Oxford University Press 2010, XIV + 391 S., 33 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-957506-0, GBP 60,00
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Juliane Fürst hat schon seit Jahren viel dazu beigetragen, dass der sogenannte Spätstalinismus, also die Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und Stalins Tod 1953, endlich die Forschungsaufmerksamkeit erfährt, die ihr als dynamische Übergangsepoche gebührt. Auch in ihrem neuen Buch richtet die Autorin den Blick nicht nur auf die repressive Seite des Stalinismus, sondern interessiert sich vor allem für die Spielräume im Denken und Handeln, die nach 1945 insbesondere von Jugendlichen genutzt wurden. Dabei steckt sie sich ein hohes Ziel, das in der Einleitung so skizziert wird: "This book is primarily a detailed study of a generation of Soviet youth who came of age at a critical period of change [...] It aims to present the whole length and breadth of the experience of being young in Stalin's later years, creating a multifaceted image of how young people related to the Soviet system" (4). Dass dabei notwendigerweise einige Lücken bestehen bleiben, liegt auf der Hand, und die Autorin beansprucht auch nicht, einen "ultimate account of what happened in late Stalinism" vorzulegen (30).
Was sie aber liefert, ist beeindruckend und das sowohl hinsichtlich des Umfangs des von ihr ausgewerteten Materials wie auch im Hinblick auf die Vielzahl von Perspektiven, aus denen sie die sowjetische Jugendkultur der Nachkriegszeit betrachtet und diese dabei auch immer wieder in den internationalen Kontext einordnet. Insgesamt kann Juliane Fürst am Beispiel der Jugend überzeugend deutlich machen, wie folgenreich diese spezielle Phase für die weitere Entwicklung der Sowjetunion gewesen ist. Wie der Titel des Buches schon sagt, geht es um die letzte Generation, die mit den Dogmen und politischen Methoden des Stalinismus aufgewachsen ist und, bedingt durch ihre spezifische Prägung durch den Krieg (an dem die Jugendlichen selbst jedoch nicht aktiv teilgenommen hatten), daraus ihre sehr eigenen Schlüsse zog und bislang nicht dagewesene Verhaltensweisen entwickelte. Das Spektrum reicht vom Erlaubten, wie der Mitgliedschaft im Komsomol oder der jugendlichen Begeisterung für literarische Helden, bis zum Unerlaubten, ja Verbotenen: vorehelicher Sex, Vorlieben für extravagante Kleidung, Musik und Tanz, sogar kriminelles Verhalten. Dabei musste eins das andere nicht unbedingt ausschließen und kaum eine Verhaltensweise war explizit "antisowjetisch" gemeint. Vielmehr entstand hier eine eigene Identität einer ganzen Generation, die weniger durch ihr Alter als vielmehr durch gemeinsame Erinnerungen und Erfahrungen geprägt war, nämlich durch die "Marks and Burns" (Kap. 1), die der Krieg ihnen zugefügt hatte. Dadurch bildeten sich Einstellungen und Sichtweisen auf die sowjetische Realität, die auch den "reifen Sozialismus" nachhaltig prägen sollten, man denke nur an Michail Gorbačev, der ebenfalls der hier beschriebenen Generation angehört. Der Wandel, aber auch die Erosion des Systems, begannen also nach Fürst nicht erst mit der Entstalinisierung und der späteren Erstarrung des Systems, sondern hatten weit tiefere Wurzeln.
Was die methodische Herangehensweise betrifft, so verortet Fürst ihre Studie zwischen Diskursanalyse und Sozialgeschichte:"it approaches the study of Soviet youth as the study of a dialogue and dialectical process in which young people and officialdom acted and reacted with and to each other and in which the front lines were by no means clearly drawn" (4). Dieser Vorgabe folgt sie dann auch in den folgenden Kapiteln, die das Verhältnis der Jugend zu den ideologischen Kampagnen der Nachkriegszeit (Kap. 2), die Tragfähigkeit der vom System vorgegebenen Integrationsmechanismen (Kap. 3), den Einfluss des Kultbuches/-films "Die Junge Garde" von Aleksandr Fadeev (Kap. 4), Mythos und Realität der Jugendkriminalität (Kap. 5), Mode, Stil und Nonkonformität (Kap. 6), Genossenschaft, Freundschaft, Liebe, Sex (Kap. 7) und schließlich Partizipationsmuster bzw. die Beziehungen der Jugend zum sowjetischen System eingehend untersuchen und interpretieren. Der Epilog greift dann noch über den eigentlichen Zeitrahmen des Buches hinaus und lässt den Blick bis in die Gegenwart der Naši-Bewegung, also der Putin-Jugend, schweifen.
Die Untersuchung basiert auf umfangreichem Dokumentenmaterial aus russischen und ukrainischen Zentralarchiven, Regionalarchiven in Rjazan', Volgograd , der Krim und den Archiven von MEMORIAL in Moskau und St. Petersburg, auf Interviews, die die Verfasserin selbst geführt hat sowie auf einer Vielzahl von gedruckten Quellen (Zeitungen, Memoiren sowie populäre Literatur und Filme) und einer Fülle an einschlägiger Sekundärliteratur. Alle diese Materialien füllen die umfangreiche Bibliographie, die der Band lobenswerterweise enthält, so dass sich die Leser diese Informationen nicht, wie inzwischen weit verbreitet, selbst aus den Fußnoten zusammensuchen müssen. Ein Glossar, ein Index und mehr als 30 Abbildungen sowie stringente Zusammenfassungen jeweils am Ende der acht Kapitel machen dieses faszinierende und gut geschriebene Buch auch über das inhaltliche Lesevergnügen hinaus zu einer erfreulichen Neuerscheinung, die nicht nur alle an der Geschichte der Sowjetunion Interessierten, sondern auch Spezialisten für Jugendkulturen auf keinen Fall verpassen sollten.
Beate Fieseler