Wolfgang Pehnt: Die Regel und die Ausnahme. Essays zu Bauen, Planen und Ähnlichem, Ostfildern: Hatje Cantz 2011, 320 S., 194 Abb., ISBN 978-3-7757-3140-9, EUR 35,00
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Im September des vergangenen Jahres jährte sich der Geburtstag Wolfgang Pehnts zum achtzigsten Mal. Aus diesem Grund richtete das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt am Main dem Kölner Architekturhistoriker eine kleine Ausstellung aus. Diesem Anlass ist auch der Aufsatzband Die Regel und die Ausnahme geschuldet, der 2011 im Hatje Cantz Verlag erschien. Der Titel des Buches ist durch ein Lehrstück von Bertolt Brecht Die Ausnahme und die Regel motiviert. Gewissermaßen in dialektischer Umkehr versucht Pehnt die Architektur unserer Zeit "von verschiedenen Standpunkten aus ins Visier" zu nehmen und widmet sich "thematischen Zusammenhängen, gegenwärtigen Aufgaben, historischen Phänomenen", um aus ihnen Lehren zu ziehen oder "manchmal auch nicht" (7).
Zu Beginn des Aufsatzreigens fällt Pehnt buchstäblich mit der Tür ins Haus und liefert mit "Drinnen und Draußen" eine kleine Kulturgeschichte der Tür. Denn diese stellt in der Architektur" den Zusammenhang zwischen Innen und Außen" (9f.) her, macht ihn überhaupt erst sichtbar und schafft so eine künstliche Abgrenzung gegenüber dem Raumkontinuum unserer natürlichen Umwelt. Pehnt zählt die Tür zu den wichtigsten Erfindungen der Menschheit, spürt ihr etymologisch nach und verfolgt ihren Funktionswandel bis in die Gegenwart. Als sichtbare Zäsur wird die Tür erst um 1900 regelrecht aufgebrochen und gerät in der Architektur der Moderne zusehends in Auflösung. Gerade im Zeitalter des Funktionalismus kommt der Tür ihre Bedeutung abhanden, verschwimmen durch Sicherheitsglas und Drehtüren allmählich die Grenzen. Erst in heutiger Zeit gelangen einige Architekten wieder dahin, alte Bedeutungskriterien wie "Dichte, Präsenz und Ankunft" (20) hervorzukramen, um mit der Tür als Grenze und Übergang motivisch zu arbeiten.
Was Pehnt bereits für das Element der Tür feststellen konnte, gilt auch für das konstituierende Element der Architektur schlechthin, das Stütze-Last-Prinzip. In seinem Beitrag "Tragen und Getragenwerden" konstatiert Pehnt, dass "der Ausdruck der Kräfte in den Fassaden seine kulturelle Rechtfertigung" lange Zeit bewahrte (25). Aber auch dieses Prinzip warf die Moderne über den Haufen. "Die Bildwirkung von Fassaden ist ein großes Thema geworden, aber Tektonik hat dabei wenig oder nichts zu sagen." (27) Das beste Beispiel bietet die Münchner Allianz-Arena, deren Hybridkonstruktion aus Stahlbeton und Stahlgitterwerk durch farbig beleuchtete Folienkissen kaschiert wird und gleichzeitig verschwindet auch die "Verständlichkeit des Bauwerks" (28). Die weitgehende Aufsplitterung des Baufachs, vor allem die Trennung von Entwurf und Realisierung durch unterschiedliche Berufsgruppen sind Gründe dafür. Derart realisierte Bauten haben nach Pehnts Ansicht häufig "etwas merkwürdig Surreales" (29) an sich. Dabei könnte die Aktivierung des Tragwerksplaners als technischem Realisator der entworfenen Formen und dessen Emanzipierung als gleichwertiger Partner des entwerfenden Architekten gewinnbringend eingesetzt werden, um zu aussagekräftigen Lösungen zu gelangen.
Ein solcher Mangel an Sprachfähigkeit wird der neueren Architektur heutzutage vielfach unterstellt. Sie sei "kontaktarm, kommunikationsuntüchtig, außerstande, sich mitzuteilen, sprachunfähig" (37). Was früheren Architektengenerationen bis in die Zeit der Postmoderne leicht zu fallen schien und sich spätestens zu diesem Zeitpunkt tot lief, war die Findung einer Formen-Sprache, die sich - selbstredend - dem Betrachter vermittelte. Vielen zeitgenössischen Architekten gelingt dies oftmals nicht. Anhand der Rotunde in Schinkels Altem Museum in Berlin zeigt Pehnt die Symbolkraft einer alten und bedeutungsschwangeren Raumform in der Architekturgeschichte: die Kuppel. Als auszeichnendes Architekturelement und geometrische Idealform diente sie berühmten Zentralbauten als Grundform. Schinkel rekurriert mit der Rotunde sowohl im Grundriss als auch im Innern auf das berühmte Pantheon. Ein im Laufe der Geschichte vielfach verwendetes Vorbild sollte nun für die neue Bauaufgabe eines öffentlichen Museums dienen. Am Außenbau ließ Schinkel dieses Motiv jedoch demütig zurücktreten, besaß doch das benachbarte Stadtschloss selbst noch keine Kuppel.
Unter der Überschrift "Selbstgefundene Ikonographie" (42) horcht Pehnt daraufhin Daniel Libeskinds Jüdisches Museum in Berlin auf derartige Sprachmuster ab. Vieldeutig lesbar als Blitz, als zerborstener "Davidstern oder SS-Rune" (46) entzieht sich das Werk jedoch dem Betrachter und erschließt sich nur durch intime Kenntnis der (auto-)biografischen Quellen, aus denen Libeskind schöpft. Diese fast willkürliche Methode der Bedeutungsaufladung erscheint wie eine Art 'disguised symbolism', wie ihn Erwin Panofsky bereits für die Analyse der altniederländischen Tafelmalerei aufbrachte und wie ihn Libeskind nun in sein eigenes Werk einbringt. Weil ein allgemeingültiges Referenzsystem fehlt, ergeben sich fast zwangsläufig "flottierende Bedeutungen" (46). "Im Gebrauch der Zeichen ist etwas eingetreten, was man die Privatisierung der Symbole nennen könnte." (46) Was kann man tun? Dazu Pehnt: "Eindämmung der Bilderinflation also auf Seiten der Urheber; und kritische Lesebereitschaft statt staunender Akzeptanz von allem und jedem auf Seiten des Publikums: Das ist schon der ganze Ratschlag." (49) So lakonisch und einfach dieser Ratschlag auch daherkommt, so schwierig ist er für beide Seiten umzusetzen, insbesondere für den Baukünstler, denn dessen "große Originalität - das ist das Dilemma - bedeutet auch erschwerte Mitteilung" (46).
Mit derartigen Problemen hat Wolfgang Pehnt nicht zu kämpfen. Belesen und gelehrt, doch niemals belehrend, kommt seine Sammlung von Vorträgen und Aufsätzen daher, bietet Einstiege und Grundlagen für die Auseinandersetzung und den Umgang mit unserer gebauten Umwelt. Die sparsam gesetzten Schwarz-Weiß-Abbildungen ergänzen die Themen und Thesen als hilfreiche Bildbelege. Spielerisch und souverän gelingt es Pehnt mit seinen Essays sowohl den Laien einzubinden als auch den Experten anzuregen, was die Lektüre angenehm macht. Dem Jubilar nachträglich noch zu seinem 80. Geburtstag zu gratulieren, kommt wohl ein wenig zu spät, aber ihm Glückwünsche für die geschickt angeordnete und gelungene Essaysammlung auszusprechen, dafür ist auch jetzt noch reichlich Zeit.
Ralf Dorn