Christian Thiem: Die Länderkammer der Deutschen Demokratischen Republik (1949-1958). Eine verfassungsgeschichtliche Darstellung von der Entstehung bis zur Auflösung (= Schriften zur Verfassungsgeschichte; Bd. 84), Berlin: Duncker & Humblot 2011, 446 S., ISBN 978-3-428-13599-8, EUR 86,00
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Die Studie des Juristen Christian Thiems ist die erste rechts- bzw. verfassungsgeschichtliche Dissertation, die Entstehung, Arbeitsweise und Abschaffung des Verfassungsorgans "Länderkammer" im Staatsgefüge der DDR untersucht.
Nachdem in einem ersten Abschnitt zum allgemeinen Selbstverständnis die geläufigen staatstheoretischen Auffassungen von Marx, Engels, Lenin und Stalin referiert worden sind, widmen sich Kapitel zwei und drei den ebenfalls in der wissenschaftlichen Literatur bekannten Verfassungsvorstellungen der SED, CDU und LDP, um dann detailliert die Beratungen im Verfassungsausschuss des Deutschen Volksrates nachzuverfolgen. Dabei konzentriert sich Thiem auf die Beratungen und durchaus kontroversen Diskussionen zwischen den ostzonalen Parteienvertretern und juristischen Sachverständigen über die Einrichtung und die Kompetenzen einer zweiten Kammer, einer Länderkammer im zukünftigen, damals noch gesamtdeutsch angedachten Verfassungsgefüge. Diese zweite Kammer hatte der erste SED-Verfassungsentwurf von August/November 1946 zunächst nicht vorgesehen. Zutreffend verweist Thiem darauf, dass der sowjetische Außenminister Molotow die Vorgabe für eine zweite Kammer in der zu schaffenden Verfassung für eine "deutsche demokratische Republik" machte, an die sich die SED-Führung im weiteren Verlauf pro forma hielt. Molotow sah in einer zweiten Kammer einen angemessenen Ausgleich zwischen unitaristischen und - vor allem von westalliierter Seite geforderten - föderalen Absichten, gerade weil er die Weimarer Verfassung als Vorbild propagierte. Das SED-Konzept, formuliert durch ihren Verfassungsexperten Karl Polak, sah als Leitlinie für die zu schaffende Verfassung von nun an vor: "Klare Vorgabe des Einheitsstaates bei unklarer Ausgestaltung einer Ländervertretung auf Ebene des Gesamtstaates." (84 f.) Weiterführend sind alle Ausführungen über Rechte und Kompetenzen der zu schaffenden Länderkammer für den zukünftigen ostdeutschen Staat, die mit den deutschen "Vorgänger-Einrichtungen" - dem Staatenhaus der Paulskirchenverfassung und vor allem dem Reichsrat der Weimarer Reichsverfassung - verglichen werden. Überdies werden Bezüge hergestellt zu den parallel stattfindenden Beratungen des Parlamentarischen Rates in den Westzonen.
Im Anschluss daran liefert der Autor einen juristischen Kommentar aller Artikel und Abschnitte der ersten DDR-Verfassung, die die DDR-Länderkammer, deren Ausgestaltung bzw. deren Mitwirkungsrechte berühren (Art. 71-80, 82, 84, 101-103). Dabei wird die Verfassungswirklichkeit in der DDR nur am Rande gestreift, worauf der Autor in seiner Einleitung bereits hinweist. Auch fördert der Autor wenig bekannte Kuriositäten zutage, wenn er beispielsweise festhält: Nach Artikel 71 Abs. 1 der DDR-Verfassung sollte pro 500 000 Einwohner ein Abgeordneter in die Länderkammer entsandt werden. Tatsächlich saßen 1950 und später in der Länderkammer 63 Abgeordnete, was einer fiktiven Einwohnerzahl von 31,5 Millionen gleichgekommen wäre. Einige dargestellte Tatsachen der DDR-Verfassungswirklichkeit halten hingegen den historischen Realitäten nicht stand. In den ersten drei Jahren nach Inkraftsetzung der DDR-Verfassung flohen, so Thiem, insgesamt acht Abgeordnete der Länderkammer nach Westdeutschland, was einem Erlöschen des Mandats gleich kam. Diese Flucht in der frühen DDR-Zeit fand damals noch nicht "unter Gefahr für Leib und Leben" (283) statt. Im günstigsten Fall setzte man sich in Ost-Berlin in die S-Bahn und fuhr nach Westberlin. Damit war die "Republikflucht" vollzogen, ein Weg, den bis 1961 ca. 2,8 Millionen DDR-Bürger gingen.
Ein eigenes Kapitel widmet Thiem der Länderkammer in der Verfassungsordnung der DDR vom 7. Oktober 1949 bis zu ihrer Auflösung am 8. Dezember 1958. Alle ihre Legislaturperioden werden mit ihren Änderungen detailliert dokumentiert. Während die fünf Länder der DDR nicht einmal drei Jahre Bestand hatten, existierte die Länderkammer mehr als neun Jahre. Mit der Schaffung der 14 Bezirke im Juli 1952 wurde diese eigentlich überflüssig. Warum sie dann ihr klägliches Dasein noch sechs Jahre fristen musste, kann Thiem auch nur mit den bekannten Verweisen auf das Argument "Bindeglied zu Westdeutschland" (275) erklären. Der Autor muss zudem konstatieren, dass auch bei einer solch gravierenden staatlichen Neuorganisation wie der Bildung der Bezirke die Frage der Existenz der Länderkammer und ihrer zukünftigen verfassungsrechtlichen Stellung im Staat selbst intern im SED-Politbüro und in der DDR-Regierung keine tiefergehende Erörterung erfuhr, die schriftlich festgehalten wurde.
Dem zentralen Resümee des Autors am Ende seiner Studie ist beizupflichten: "Schon die Verhandlungen des Verfassungsausschusses [1946-1949] zeigten, dass sich für die Idee eines gelebten Föderalismus - verstanden als politische Organisationsform, die institutionell-funktionalistisch die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben zwischen verschiedenen Ebenen aufteilt, die verfassungsrechtlich bestimmte staatliche Strukturelemente garantiert, die aber auch sozialphilosophisch ein über die Staatsorganisation herausreichendes, dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtetes, Ordnungsmodell akzeptiert - in der DDR kein Raum fand." (349)
Das Buch schließt mit einem kurzen Ausblick auf die Renaissance der Länderkammer im Verfassungsentwurf des "Zentralen Runden Tisches" 1990. Ein umfangreicher Anhang über die parteipolitische und namentliche Zusammensetzung der Länderkammer und deren Gesetzgebungstätigkeit runden die Arbeit ab.
Die Studie basiert auf der Auswertung von historischen und rechtsgeschichtlichen Primärquellen, die die Länderkammer der DDR sowie die politischen Akteure der ostzonalen Parteien zur Schaffung der Verfassung sowie die Abgeordneten in jenem Verfassungsorgan im Blick haben. Zu nennen sind in erster Linie die Akten im Bundesarchiv Berlin und die in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin. Die Lesbarkeit der Arbeit von Christian Thiem wird jedoch durch die überlangen Zitate, aus denen gut die Hälfte der gesamten Studie besteht, beeinträchtigt.
Heike Amos