Winfried Menninghaus: Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2011, 320 S., ISBN 978-3-518-58565-8, EUR 24,90
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Die Frage Wozu Kunst im Titel des Buches fasst mehrere Fragen zusammen, denen Winfried Menninghaus nachgeht. Die wichtigsten von ihnen lauten: Warum gibt es Kunst? Woraus und wie hat sie sich entwickelt? Wann fanden diese Prozesse statt? Wozu dient Kunst?
Unter dem Kunstbegriff werden die Entwicklung von Musik, Gesang, Tanz, Theater, Poesie und Malerei betrachtet, sowie Verhaltensanpassungen des Menschen, die dazu beitrugen, dass so etwas wie Kunst und deren Rezeption möglich wurde. Auch geht der Autor auf Rhetorik ein, die in der evolutionsgeschichtlichen Forschung bisher wenig Beachtung fand, aber als ästhetische Variante des gesprochenen Wortes auch in der Evolution ihre Wirkung gehabt haben muss.
Die Struktur der Argumentation Menninghaus' wird durch einen vierteiligen Aufbau des Buches verdeutlicht. Sie beginnt - als Beispiel für die Konkurrenzhypothese - im ersten Kapitel zunächst mit der Betrachtung der menschlichen Haut, die für Darwin ein differenzierendes Ganzkörper-Ornament darstellte. Der Autor untersucht den Einfluss dieses besonderen Ornaments auf visuelle Kunst, das durch angewandte Techniken der Selbstdekoration und -bemalung seinen Ausdruck findet.
Dieser und weiteren Aussagen Darwins zu den Künsten werden maßgebende philosophische und naturwissenschaftliche Auffassungen gegenüber gestellt. Stets erläutert der Autor Stärken und Schwächen der genannten Thesen, die er miteinander in Verbindung bringt, wodurch der Leser eine sehr umfassende und in die Tiefe reichende Kenntnis über die verschiedenen Sichtweisen erhält. Diese Art der Darbietung verschiedener Ansichten ist ein wichtiges Merkmal und durchzieht das ganze Buch, macht es damit zu einer reichhaltigen Präsentation wesentlicher Auffassungen zu dem Gebiet der evolutionären Ästhetik. Denn durch Menninghaus' sachverständige Untersuchung und Interpretation, die die Betrachtung historischer und zeitgenössischer Aussagen zu diesem Wissensbereich mit einbeziehen, werden Qualität und Aktualität der von Darwin aufgestellten Thesen deutlich, dessen Vorstellungen damit angemessen Raum gegeben wird.
Das zweite Kapitel stellt die Funktionshypothese der Anthropologie und Ethnologie vor, nach der die Entwicklung von Gesang, Tanz und instrumentaler Musik beim Menschen nicht als Konkurrenzwettbewerb um sexuelle Partner angesehen werden müssen, sondern als Prozess der Bildung sozialen Zusammenhalts. Ein Argument dafür ist die soziale Teilbarkeit menschlicher Kunst, was deren Rezeption erst ermöglicht. Wie das Pfauenrad, wollen die Künste Aufmerksamkeit erzeugen. Im Gegensatz zum Tierreich - und zu den Aussagen Darwins - geht es aber nicht um Wettbewerb und sexuelle Partner, sondern um die Stärkung der Gruppe und ihrer Gemeinschaft.
Weil in der Menschheitsgeschichte Körperornamente, Spiel und Werkzeuggebrauch ursächlich eher getrennt beurteilt wurden, so vervollständigt der Autor die in den ersten beiden Kapiteln vorgebrachten Hypothesen um eine eigene. Er sieht Sprache und Symbolbildung als die wichtigen Elemente an, die die in der ästhetischen Wertung soeben genannten Bereiche jetzt miteinander verbinden und damit einer neuen Nutzung erschließen: Diese Nutzung sind die Künste.
Wurde die Entwicklung von Kunst bis jetzt hauptsächlich unter phylogenetischen, also stammesgeschichtlichen, Aspekten untersucht, so erfolgt dies im vierten und letzten Teil des Buches unter einem eher ontogenetischen Ansatz, den Auswirkungen von Kunst und Kunstpraktiken auf das einzelne Individuum. Hier macht der Autor auf die derzeitige Forschungslage aufmerksam. Gerade im Bereich von Kunst sind die Effekte auf den Menschen erst in Ansätzen erforscht. Menninghaus stellt die Wichtigkeit verallgemeinerbarer Forschungsergebnisse heraus, könnten doch diese eine entsprechend ausgerichtete Erziehung in den Schulen legitimieren.
So ist die Plastizität des Gehirns nicht nur bei künstlerischer, sondern jeder Tätigkeit gegeben. Noch ist unzureichend untersucht, inwieweit neuronale Strukturen erhalten bleiben, wenn man beispielsweise nicht mehr musiziert. Hier wäre weitere Forschung nötig, die die Relevanz der Künste für Bildung nachweist und die die Übertragung von Fertigkeiten aufgrund von Kunstausübung auf andere Zusammenhänge des Denkens, Fühlens und Handels erklären kann. Positive Effekte von Kunstunterricht auf die Leistungen in nicht-künstlerischen Fächern gibt es. Menninghaus erläutert grundsätzliche Schwächen bisheriger Forschung und zeigt, dass die Ursache für die angesprochene Leistungsverbesserung ungeklärt ist: Liegt sie in der Beschäftigung mit Kunst an sich oder in der dadurch ausgelösten Erhöhung der allgemeinen Motivation?
Die Bearbeitung von Fragestellungen dieses Bereichs der Ästhetik - und das erwähnt der Autor ebenfalls - können nur von mehreren Disziplinen gemeinsam getragen werden. Denn wie aus den ersten beiden Kapiteln hervorgeht, können weder die darwinsche Sichtweise noch die Ethnologie / Anthropologie allein das Phänomen der Künste erklären. Beiden gemeinsam jedoch ist, dass sie nachvollziehbare Argumente, die aber jeweils nur kleinere oder größere Teilaspekte, nicht aber die alleinige Weisheit enthalten, liefern können.
Der Autor schlägt in seiner Betrachtung der Entwicklung der Künste einen weiten Bogen von Darwin zu den Neurowissenschaften unter Berücksichtigung philosophischer und naturwissenschaftlicher Sichtweisen. Der Aufbau des Buches hilft dem Leser dabei, sich nicht in der Vielschichtigkeit der Argumente und Theorien zu verlieren. Insgesamt ist dies ein sehr fundiertes, umfassendes und weitsichtiges Werk, das nicht unbedingt leicht zu lesen ist, dessen Lektüre jedoch mit einer tiefen Einsicht in die evolutionäre Ästhetik belohnt wird.
Sabine Scherz