Patrick Bormann / Thomas Freiberger / Judith Michel (Hgg.): Angst in den Internationalen Beziehungen (= Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte; Bd. 7), Göttingen: V&R unipress 2010, 319 S., 2 Abb., ISBN 978-3-89971-631-3, EUR 46,90
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Angst, wie auch andere emotionale Konzepte, stoßen in der internationalen Geschichte auf wachsendes Interesse. Das Thema sei historiographisch "bislang eher vernachlässigt", konstatieren die Herausgeber einleitend (9, 15). Doch Angst in den internationalen Beziehungen ist gewissermaßen ein alter Hut. Nicht nur hat seit den 1990er Jahren die Terrorismus-Furcht zu einer ganzen Serie von Analysen geführt. Auch im Kontext der Geschichte des "Kalten Krieges" war schon des Öfteren von Angst die Rede wie auch in Studien zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges Angst schon länger zu den bevorzugten Gegenständen gehört. So ganz taufrisch ist das Thema daher wohl nicht. Das macht auch die Einleitung z.B. durch den Verweis auf den britischen Historiker Herbert Butterfield deutlich, der 1960 die Rolle von Angst und Verdächtigungen in den internationalen Beziehungen thematisierte (20). Einem der Einzelbeiträge zufolge hat schon Thukydides über Angst im Peloponnesischen Krieg geschrieben (48). Und leider scheint in Vergessenheit geraten zu sein, dass in den 1960er Jahren ein gewisses historiographisches Interesse an Ängsten herrschte. In der Bundesrepublik wurden damals z.B. die Arbeiten von Heinz Gollwitzer über die "Gelbe Gefahr" (1962) publiziert oder in den USA Richard Hofstadters Essay über den "Paranoid Style in American Politics" (1964). Es läge nahe, diese älteren Studien auf ihre andauernde Relevanz für die moderne Geschichte der Emotionen zu befragen.
Trotz dieser leichten Traditionsvergessenheit ist es sehr zu begrüßen, dass der aus einer Bonner Tagung hervorgegangene Sammelband den aktuellen Stand der Forschung resümiert und mit einer Reihe von Fallbeispielen aufwarten kann, die es erlauben, die analytische Fruchtbarkeit emotionengeschichtlicher Ansätze für die Historiographie der internationalen Beziehungen zu prüfen. Die Herausgeber lehnen simple Dichotomien von Verstand vs. Gefühl ebenso ab wie sie sich auch weder für eine rein sozial konstruktivistische noch für eine rein physiologische Betrachtungsweise von Emotionen entscheiden. Vielmehr plädieren sie dafür, nach den Wechselwirkungen von sozial festgelegten "emotionalen Standards" und individuellen emotionalen Erfahrungen zu fragen, also dem, was "körperlich" empfunden wird (24). Hierin liegt aber die Krux emotionengeschichtlicher Ansätze ganz besonders in der Geschichte der internationalen Beziehungen. Das hat viel mit ihren spezifischen Fragen und Quellen zu tun, jedenfalls im Vergleich zur Kulturgeschichte der Emotionen, die sich meist nicht für die Analyse von Entscheidungssituationen interessiert. In der Regel lassen sich gesellschaftlich konstruierte Ängste leichter fassen, weil sie sich z.B. in der Publizistik niederschlagen, als individuelle Gefühlsregungen "großer Männer und Frauen", die handlungsrelevant werden oder auch nicht. Hierzu aber fällt den Einzelbeiträgen auch nicht wirklich etwas Rettendes ein. Die Emotionengeschichte der internationalen Beziehungen droht in eine ähnliche Sackgasse zu steuern wie in den 1970er Jahren die damals hoch bewertete Psychohistorie. Auch diese konnte "Amerikas Kriege" nicht schlüssiger erklären als andere Ansätze.
Auf diese methodischen Schwierigkeiten geht der Beitrag von Christoph Berger Waldenegg ein, der die Historiographie zur österreich-ungarischen Kriegsentscheidung 1914 auf die Verwendung von Angst als Erklärungsmoment abklopft. Ihm zufolge wird Angst in zahlreichen Studien zur Julikrise als Faktor herangezogen, aber meist unkritisch verwendet (was Angst sei, werde schlicht als bekannt vorausgesetzt) und auch quellenmäßig wenig abgestützt. Ein ähnliches Problem hat Patrick Bormann in seinem Beitrag zu "Furcht und Angst als Faktoren deutscher Weltpolitik 1897-1914" am Wickel. Ihm fällt es schwer, den direkten Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung nachzuweisen - eine Frage, die auch Alma Hannig in ihrem Beitrag zur Balkanpolitik Österreich-Ungarns vor dem Ersten Weltkrieg umtreibt. Dieser Beitrag ist empfehlenswert, weil er am konkreten Beispiel nüchtern Potentiale und Schwierigkeiten einer Emotionengeschichte resümiert, wie die Vermischung verschiedener emotionaler Dispositionen (Ängste, Hoffnungen, Erwartungen), aber auch konkurrierender Ängste (vor Serbien, Russland, den eigenen Verbündeten), die sich am Ende (auch für die Historikerin) unauflösbar verwirrten. Deutlich wird, wie schwer es fällt, von individuellem Verhalten und emotionalen Dispositionen auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen zu schließen.
Welche neuen Fragen eröffnet Angst in der Geschichte der internationalen Beziehungen? Eine Gruppe von Aufsätzen thematisiert Angst als Instrument der Politik. Hier steht die Diplomatiegeschichte auf vertrautem Boden. Ängste sind etwa im Falle von Margaret Thatchers durchsichtigen Warnungen vor einem neuen deutschen Koloss nach der Wiedervereinigung leicht zu greifen (Andrew Dodd). Doch geht es hier überhaupt um Emotionen? Dient Angst hier nicht als Metapher, um bestimmte, unerwünschte Entwicklungen zu verhindern? Weitere Fallbespiele beschäftigen sich mit Angst in den deutsch-polnischen Beziehungen (Pierre-Frédéric Weber), in der Außenpolitik der frühen amerikanischen Republik (Michael Lenz), in der Royal Air Force im Zweiten Weltkrieg (Lothar Höbbelt) und mit der Nuklearangst im Kalten Krieg (Sebastian Haak). Letzterer datiert den Aufstieg einer gesellschaftlichen Nuklearangst früh auf das Jahr 1945. Dabei ist die "nuclear fear" ein klassisches Beispiel dafür, dass Nuklearängste erst allmählich geschaffen wurden. Auch eignen sie sich ganz hervorragend dazu, politische Grundsatzentscheidungen fassbarer und kommunizierbar zu machen. Das deutet Judith Michel in ihrem aufschlussreichen Beitrag zu "richtiger und falscher" Angst in der Debatte über den NATO-Doppelbeschluss an sowie Holger Löttel in seinem Aufsatz zur "Angst vor der Atombombe" bei Adenauer. Hier werden politische Haltungen unter Rückgriff auf emotionale Konzepte legitimiert bzw. delegitimiert. Angst würde ich daher als eine zeittypische Form bezeichnen, Präferenzen auf den Begriff zu bringen und gesellschaftlich breit zu kommunizieren. Dies hat mit Emotionen im Sinne physiologisch empfundener Angst weniger zu tun als mit politischer Kommunikation und semantischen Konventionen.
Aufschluss darüber, welche Rolle Angst in den internationalen Beziehungen spielt, könnten Langzeitstudien erbringen. Wie verändert sich das Reden über Angst im historischen Ablauf, in unterschiedlichen gesellschaftlichen "Emotionen-Regimen" und Kontexten? Leider kommen die Wandlungen der Angst über längere Zeiträume etwas knapp vor, denn in den an sich lesenswerten Beiträgen von Jörg Ulbert zur französischen Furcht vor der habsburgischen bzw. deutschen "Umklammerung" und von Thomas Freiberger zur "republikanischen Illusion" in der US-Außenpolitik werden sie stärker als Grundkonstanten denn als sozial wandelbare gesellschaftliche Konstruktionen verstanden. Wie sich dann der Kampf Frankreichs gegen die deutsche Einheit von Interpretationen, die den Gedanken des Machtgleichgewichts oder der Hegemonie in den Vordergrund stellen, unterscheidet, ist mir nicht klar, zumal der Begriff der Angst in den älteren Quellen nicht überliefert ist. Hier bringt es Rüdiger Graf auf den Punkt (in einem Beitrag zum arabischen Erdölembargo 1973/74), dass Angst letztlich mit anderen für die Geschichte der internationalen Beziehungen relevanten Begriffen wie z.B. dem der Sicherheit korreliert werden muss. Damit aber ist Angst eine von mehreren Optionen sich über politische und gesellschaftlich Ziele zu verständigen. In diesem Sinne dient Angst oft als politische Metapher. Das eröffnet aufschlussreiche Zugänge und neue Weg zu scheinbar alten Themenkomplexen. Dazu, dass diese Debatte in der deutschen Geschichtswissenschaft geführt wird, leistet dieser Band zweifellos einen wichtigen Beitrag.
Philipp Gassert