Bernd Greiner / Tim B. Müller / Claudia Weber (Hgg.): Macht und Geist im Kalten Krieg (= Studien zum Kalten Krieg; Bd. 5), Hamburg: Hamburger Edition 2011, 544 S., ISBN 978-3-86854-237-0, EUR 35,00
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Der Kalte Krieg war nicht nur eine machtpolitische und militärische Auseinandersetzung zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion, sondern ein umfassender weltanschaulicher Konflikt, der als globaler "Kampf um die Köpfe der Menschheit" (Hans Morgenthau) ausgetragen wurde. Diese Feststellung bildet den Ausgangspunkt vieler neuerer Studien zum Ost-West-Gegensatz nach dem Zweiten Weltkrieg. Entsprechend greifen Forschungen zum Kalten Krieg mittlerweile oft über die Politik- und Militärgeschichte hinaus und beziehen kultur- und wissenschaftshistorische sowie ideen- und intellektuellengeschichtliche Fragen mit ein.
Nach Tagungsbänden zu "Heißen Kriegen", "Krisen", "Angst" und "Ökonomie" im Kalten Krieg wendet sich auch das Hamburger Institut für Sozialforschung diesen gegenwärtig stark expandierenden Forschungsfeldern zu. Der fünfte Band seiner Reihe "Studien zum Kalten Krieg" ist dem Großthema "Geist und Macht" gewidmet, das in 26 Beiträgen umkreist wird. Der Titel ist so weit gewählt, dass er nicht nur das Verhältnis von Politik und Wissenschaft abdeckt, dem sich der überwiegende Teil der Aufsätze widmet, sondern auch westliche Werbefachleute (im Beitrag von Kenneth Osgood) und die sowjetische Intelligenzija (bei Stephen V. Bittner) umfasst. Besonders im Blickpunkt stehen Spieltheorie und Kybernetik, denen sich mehrere Aufsätze zuwenden, während die Geisteswissenschaften, die sonst oft einen beliebten Untersuchungsgegenstand historischer Studien abgeben, eher unterrepräsentiert sind.
Geographisch liegt der Schwerpunkt jenseits des Atlantiks. 17 der 26 Autoren forschen in den USA, fünf weitere arbeiten in Deutschland, je einer in der Schweiz, Griechenland, Kanada und England - ein Zahlenverhältnis, das halbwegs getreulich widerspiegelt, wo die Ideengeschichte des Kalten Krieges in den vergangenen Jahren institutionell beheimatet war. Gut die Hälfte aller Beiträge hat amerikanische Einrichtungen und Wissenschaftsdisziplinen zum Thema: von der amerikanischen Sowjetologie (David C. Engerman) über die Transformation der amerikanischen Wirtschaftswissenschaft (Michael A. Bernstein) bis zur Wissensproduktion in der von der US-Luftwaffe finanzierten Rand Corporation (Philip Rocco). Dabei fällt auf, dass amerikanische Autoren "den Staat als zentralen Akteur" (301) wiederentdecken, während in der deutschen Historiographie momentan der gegenteilige Trend vorherrscht, den Staat aus der Geschichte zu eskamotieren.
Die vergleichsweise wenigen Aufsätze über europäische, speziell deutsche Experten und Entwicklungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie im Beitrag von Andreas Wirsching über "Bildung als Wettbewerbsstrategie", in Mario Keßlers Skizze über Ossip K. Flechtheims Futurologie und in Holger Nehrings Überlegungen zur deutschen Friedensforschung Wechselwirkungen und Transferprozesse zwischen Ost und West ins Auge fassen. Rüdiger Grafs kluge Überlegungen zur Öl- und Energiekrise der frühen 1970er Jahre rücken darüber hinaus sich ausweitende Interessen- und Wahrnehmungsdifferenzen zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten in den Blick; Graf macht deutlich, dass die Energiefrage für die Amerikaner ein sekundäres Problem blieb, während es für die Europäer die Frage aufwarf, ob gerade in einer Phase der Entspannung "die Logik des Kalten Krieges nicht hinter anderen Problemen zurückstehen müsse" (220).
Einige der instruktivsten Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit der UdSSR, die auf den ideengeschichtlichen Landkarten des Kalten Krieges vielfach noch terra incognita ist. Wladislaw M. Subok beschreibt die Gedankenwelten und (begrenzten) Einflussmöglichkeiten sowjetischer Westexperten wie Anatoli Tschernjajew oder Wadim Sagladin, die sich in der Breschnew-Ära für die Entspannungspolitik einsetzten, ohne freilich maßgebliche Gestaltungsmöglichkeiten zu erlangen. Slawa Gerowitsch liefert eine Erklärung dafür, warum sich die Computerisierung der Verwaltung in der Sowjetunion kaum durchsetzte. Die sowjetische Bürokratie, so Gerowitschs These, habe sich mit den "gesetzmäßigen, regelbasierten Operationen des Computers" nicht anfreunden können, weil diese keinen Raum ließen für die "subtilen Mechanismen der Patronage, Beziehungsnetzwerke und informellen Einflussnahme, die für das Funktionieren der sowjetischen Wirtschaft wesentlich waren" (394).
Methodisch und konzeptionell repräsentiert der von Bernd Greiner in bewährter Manier eingeleitete Band den state of the art moderner Ideengeschichte. Man findet Anleihen bei der kulturhistorisch inspirierten Frühneuzeitforschung, etwa wenn Sönke Kunkel in seinem durchdachten Aufsatz über amerikanische Ökonomen in Nigeria auf die Bedeutung symbolischer Politik abhebt. Es wird deutlich, dass der Kalte Krieg keine völlig neuen Vorstellungsräume und Organisationsgehäuse schuf, sondern ideell wie institutionell an Bestehendes anknüpfte und schon Vorhandenes überformte. So wurden ältere Konzeptionen einer imperialen "Zivilisierungsmission" britischer und französischer Provenienz unter den neuen, maßgeblich von den USA geprägten Leitbegriffen von Modernisierung und Entwicklung "reaktiviert", wie Moritz Feichtinger in seinem Aufsatz über "strategische Dörfer" in Malaya und Algerien überzeugend darlegt.
Zusammengenommen erhärten die Beiträge Greiners These, dass "die" Wissenschaft im Kalten Krieg nicht einfach von "der" Politik manipuliert oder instrumentalisiert worden ist. Vielmehr ergibt sich ein vielschichtigeres Bild, in dem akademische Experten und Intellektuelle die Rahmenbedingungen des Kalten Krieges zum Teil durchaus erfolgreich für die Verfolgung eigener Interessen nutzten oder sogar ihrerseits die Vorstellungen politischer Entscheidungsträger mit prägten. Wer über den gegenwärtigen Stand der Ideengeschichte des Kalten Krieges umfassend und anregend informiert werden möchte, ist bei "Geist und Macht im Kalten Krieg" gut aufgehoben; die thematische Spannbreite der Beiträge ist groß, die Qualität fast durchweg hoch. Einige Defizite und Desiderate dieser Forschungsrichtung spiegelt der Band freilich ebenfalls wider: Wir wissen auch ideengeschichtlich inzwischen viel über die Vereinigten Staaten, einiges über Europa, aber immer noch recht wenig über die Sowjetunion und fast gar nichts über China, während die Länder der "Dritten Welt" erst allmählich als eigenständige Akteure ins Blickfeld rücken. Auch die "Dynamik transnationaler Wissensverflechtung" (14), das merkt Greiner selbst an, ist noch kaum erforscht.
Dominik Geppert