Rezension über:

Robert Lorenz: Protest der Physiker. Die "Göttinger Erklärung" von 1957 (= Studien des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zur Geschichte politischer und gesellschaftlicher Kontroversen; Bd. 3), Bielefeld: transcript 2011, 400 S., ISBN 978-3-8376-1852-5, EUR 33,80
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Rezension von:
Holger Nehring
University of Sheffield
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Empfohlene Zitierweise:
Holger Nehring: Rezension von: Robert Lorenz: Protest der Physiker. Die "Göttinger Erklärung" von 1957, Bielefeld: transcript 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 10 [15.10.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/10/20733.html


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Robert Lorenz: Protest der Physiker

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In ihrer am 12. April 1957 veröffentlichten "Göttinger Erklärung" sprachen sich achtzehn berühmte Naturwissenschaftler gegen die Ausrüstung der Bundeswehr mit nuklearen Waffen aus. Sie stellten sich damit gegen Bundeskanzler Konrad Adenauers Politik und kritisierten, dass er taktische Nuklearwaffen, der Sprachregelung der NATO folgend, verharmlosend als Weiterentwicklung der Artillerie bezeichnet hatte. [1] Dagegen brachten die Wissenschaftler ihre fachliche Expertise ins Spiel und wiesen "auf einige Tatsachen hin [...], die alle Fachleute wissen" (31). Sie setzten damit wissenschaftliche Expertise und ihre wissenschaftliche Reputation gegen die von Adenauer in Anschlag gebrachte Verantwortungsethik des Politikers. Die Wissenschaftler, entgegnete Adenauer, mögen sich doch um ihre eigenen Dinge kümmern. Das Manifest gilt oft als Ausgangspunkt für die weiteren Debatten um die Atombewaffnung der Bundeswehr und wird gleichermaßen als Ausgangspunkt für das Erwachen einer kritischen Öffentlichkeit in der politischen Kultur der jungen Bundesrepublik gesehen.

In dieser flott geschriebenen und mit dem Opus Primum Preis der Volkswagenstiftung ausgezeichneten politikwissenschaftlichen Studie soll es darum gehen, die "Göttinger Erklärung" als "politisches Manifest" verstehbar zu machen und auf diese Weise auch konzeptionelle Anregungen für die Analyse von politischen Manifesten in der Demokratie zu liefern. Es handelt sich also der Intention nach primär um eine demokratietheoretische und nicht wissenschaftsgeschichtliche Studie. Nach einer problemorientieren Einleitung, welche auf die Bedeutung von Manifesten in der Politik seit der Aufklärung eingeht, gliedert sich die Arbeit in zwei Hauptteile. Im ersten Abschnitt analysiert der Autor die Entstehung und den politischen Kontext des Manifests und geht auf seine Unterzeichner und die öffentliche Debatte ein. Kernthese dieses Teils ist, dass der Formulierung des Manifests ein längerer Lern-und Diskussionsprozess vorausgegangen war. Dass diese Art der politischen Einmischung durchaus Kontinuitäten mit der politischen Einmischung von Wissenschaftler in der Weimar Republik aufweist, gerät dabei etwas in den Hintergrund. [2] Der zweite Teil erläutert dann die komplexe Motivstruktur, die sich hinter dem Manifest verbarg, und geht dabei sowohl auf forschungsinterne als auch persönliche Motive ein, so dass die "Göttinger Erklärung" dann unter anderem als "Public-Relations"-Maßnahme für das In- und Ausland erscheinen kann (188-219). Eine ideengeschichtliche Verankerung bleibt eher außen vor, und Historiker hätten sich vielleicht eine eingehendere Diskussion über die Probleme bei der Erkundung von Motiven historischer Akteure ex post gewünscht, ein Thema, welches Michael Frayn in seinem Theaterstück "Copenhagen" (1998) gerade im Zusammenhang mit der ethischen Verantwortung von Atomwissenschaftlern brillant thematisiert.

Ihrem Erkenntnisinteresse gemäß beruht diese Studie vor allem auf der Auswertung veröffentlichter Quellen, wie etwa der wissenschaftlichen Literatur und der Tagespresse. Die zugänglichen internen Akten oder die Nachlässe der Wissenschaftler wurden nicht herangezogen. Angesichts des Ziels der Studie, die Bedeutung politischer Manifeste zu untersuchen, überrascht die spärliche Auswertung dafür geeigneter Quellen, noch mehr aber die sehr vollmundig vorgetragene These des Autors, das Göttinger Manifest ließe sich auf "karrieristische Motive am beruflichen Fortkommen" (346) der beteiligten Wissenschaftler zurückführen, obwohl der Autor den Vorwurf zurückweist, "einen böswilligen Versuch einer Demontage des Mythos der Göttinger Achtzehn" (ebd.) unternommen zu haben. Das mag ja so sein, und Lorenz gesteht auch die "demokratieförderlichen Verdienste und zivilgesellschaftlichen Leistungen" des Manifests ein. Aber erstens fallen solche steilen Statements stark hinter den Stand der Forschung zurück, den Lorenz selbst rezipiert hat. [3] Zweitens erschließt sich dem Leser nicht, warum diese Motive für die Funktionen und Wirkungen eines politischen Manifests relevant sein sollten. Denn gerade das zentrale Thema der Studie bleibt im Endergebnis doch sehr vage: Der Autor spricht von "Einheit in der Aktion, Verschiedenheit im Motiv" (334) und zählt dann einige der zentralen Folgen des Manifests auf. Für Historiker wenig überraschend dürfte die Erkenntnis sein, dass politische Manifeste erst innerhalb eines spezifischen historischen Kontexts ihre Wirkung entfalten können. Dass der Autor die Dynamik der Massenmedien bei der Konstitution von Wissen in der Gesellschaft der Bundesrepublik und in der politischen Kommunikation nicht eigens würdigt, dürfte aber selbst aus politikwissenschaftlicher Perspektive ein großes Manko sein, hat doch die neuere Forschung gerade die Bedeutung von Massenmedien für die Konstitution von Politik herausgearbeitet. [4] Insgesamt bietet der Autor also eine schwungvoll geschriebene Studie, die - mal mehr mal weniger - auf der Höhe der Forschung argumentiert, aber letztlich weder inhaltlich noch auf konzeptioneller Ebene voll überzeugen kann.


Anmerkungen:

[1] Detlef Bald: Die Atombewaffnung der Bundeswehr. Militär, Öffentlichkeit und Politik in der Ära Adenauer, Bremen 1994.

[2] Siehe etwa Britta Scheideler: Albert Einstein in der Weimarer Republik. Demokratisches und elitäres Denken im Widerspruch, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 53 (2005), 381-419.

[3] Vgl. Arne Schirrmacher: Physik und Politik in der frühen Bundesrepublik Deutschland. Max Born, Werner Heisenberg und Pascual Jordan als politische Grenzgänger, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 30 (2007), 13-31; sowie jüngst auch Cathryn Carson: Heisenberg in the Atomic Age: Science and the Public Sphere, Cambridge 2010.

[4] Siehe dazu die Vorschläge bei Arne Schirrmacher: Nach der Popularisierung. Zur Relation von Wissenschaft und Öffentlichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), 73-95 und allgemein: Bernd Weisbrod (Hg.): Die Politik der Öffentlichkeit - Die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2003.

Holger Nehring