Birte Meinschien: Michael Freund. Wissenschaft und Politik (1945-1965) (= Kieler Werkstücke. Reihe H: Beiträge zur Neueren und Neuesten Geschichte; Bd. 2), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2012, 230 S., ISBN 978-3-6316-2299-5, EUR 44,80
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Er kam aus eher kleinbürgerlichen Verhältnissen, absolvierte die Oberrealschule, studierte Geschichte, Anglistik und Germanistik in München, wo er im November 1925 vom nationalliberalen, 1935 von den Nationalsozialisten zwangsemeritierten Historiker Hermann Oncken promoviert wurde. Geboren im Januar 1902 gehörte er jener Altersklasse an, die man seit den späten 20er Jahren unter Kriegsjugendgeneration rubrizierte. In das Bewusstsein des damaligen Lesepublikums wurde sie unter anderem durch den Bestseller des Schriftstellers Ernst Glaeser gehoben, der in seinem Roman Jahrgang 1902 eine schonungslose Abrechnung mit dem Wilhelminischen Deutschland veranstaltete, mit der in den bürgerlichen Schichten beheimateten Militärseligkeit, mit Antisemitismus und verklemmten Moralauffassungen. Michael Freund, von dem hier die Rede sein soll, hat das Spezifikum seiner Generation in einem Gefühl der Heimatlosigkeit sehen wollen. Er, Freund, habe, konstatierte er, fünf Epochen vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik durchlebt und viermal "das Gesicht der Revolution geschaut: 1918, 1933, 1945 und jetzt (gemeint sind die späten 1960er Jahre) den Aufstand der Jugend, vor allem der Studentenschaft." Trotz der Brüche überwiege jedoch die Kontinuität. Denn er habe "immer wieder" erfahren, "wie der Bau der alten Gesellschaft von der schäumenden und lärmenden Flut fast völlig überspült schien und wie der Felsengrund darunter beinahe unverändert wieder emportauchte, nachdem die rauschenden Wasser sich verlaufen hatten."
Zitiert werden diese Sätze in der biographischen Studie der Kieler Historikerin Birte Meinschien. Sie finden sich am Beginn der Einleitung, die Auskunft gibt über Erkenntnisinteressen, Forschungs- und Quellenlage. Interpretiert werden sie nicht gleich an Ort und Stelle, sondern erst am Ende des folgenden Kapitels, das über die Wege des Protagonisten bis zum Jahr 1945 berichtet. Angelehnt an Ulrich Herbert, sieht die Autorin das Charakteristikum der Kriegsjugendgeneration darin, dass sie, weil ihr die Bewährung an der Front verwehrt geblieben war, bestrebt gewesen sei, diesen als Defizit empfundenen Tatbestand mit Hilfe politisch extremer Positionen zu kompensieren. Dies lasse sich auch an Michael Freund exemplifizieren. So recht einleuchten will das allerdings nicht. Denn worin manifestierte sich dessen Radikalismus? In der Mitarbeit bei den rechtssozialdemokratischen Neuen Blättern für den Sozialismus doch eher nicht, und auch hinter dem 1932 erschienenen Buch über "Georges Sorel" und den "revolutionären Konservatismus" steckte dergleichen nicht, wohl aber der Versuch, den ideengeschichtlichen Wurzeln der großen Ideologien des 20. Jahrhunderts, Bolschewismus und Faschismus, auf die Spur zu kommen. Warum Birte Meinschien die modische, tatsächlich etwas chimärische Kollektivzuschreibung "Kriegsjugendgeneration" bemüht, wird nicht ganz klar, hat im übrigen für den Fortgang ihrer Argumentation - zu Recht - keine Bedeutung, denn deren Stärke liegt in der sorgsamen Entschlüsselung von Brüchen und Kontinuitäten, an denen es im Leben des Michael Freund ebenso wenig mangelte wie bei anderen seiner Altersgenossen.
Das Hauptaugenmerk der Studie liegt auf den Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes, der dazu zwang, Optionen und Chancen mit tief greifend veränderten Existenzbedingungen in Einklang zu bringen. Freund hat sich, wie die Autorin hervorhebt, durchaus abgemüht mit der Frage nach der "Schuld", der eigenen und der der Nation. Sein "entscheidender Fehler" sei gewesen, bekannte er 1948 gegenüber dem emigrierten katholischen Intellektuellen Waldemar Gurian, dass er nicht aus Deutschland herausgegangen sei, ein Befund, den er freilich sogleich relativierte: "Ein Mann, der nicht Versicherungsagent werden kann und aus Neigung ebenso sehr Publizist wie Historiker ist, konnte im Dritten Reich nicht wirken ohne ein Maß an Apostasie." Er wäre, schrieb er Jahre später, "gerne in Ruhe gelassen worden". Ein Nazi, nicht einmal ein solcher mit halbem oder viertel Herzen, war er nicht, gleichwohl sah er sich zu Anpassungsleistungen genötigt. Im Januar 1940 trat er in die Partei ein: aus Gründen der Opportunität, um im Wissenschaftsbetrieb Fuß zu fassen, nicht aus Überzeugung. Gleichwohl auch ließ er sich verleiten, 1944 eine Auswahl von Zitaten aus Sorels Werken zusammenzustellen, in der ein Abschnitt von der "Eroberung Frankreichs durch die Juden" handelte. Ebenso befremdlich war, dass unter den - nicht mehr realisierten - Projekten des "Instituts zur Erforschung der Judenfrage" Freunds Name auftauchte: eine "Geschichte der Judenfrage in Dokumenten", zur Publikation vorgesehen bei der "Essener Verlagsanstalt", einem NS-Verlag, dem Freund eine Zeitlang als Lektor gedient hatte.
Hatte 1938 der Dozentenführer an der Universität Freiburg trotz vollzogener Habilitation Freunds Ernennung zum Dozenten, weil politisch unzuverlässig, torpediert, so erwuchsen diesem nach 1945 Schwierigkeiten aus seiner Parteimitgliedschaft. Offenbar war sie das entscheidende Hindernis für eine Berufung an die Spitze des neu zu gründenden Münchener Instituts für Zeitgeschichte. Freund war allerdings, wie Birte Meinschien zeigt, gut vernetzt. Zu seinen Fürsprechern zählten Gerhard Ritter und Gerd Tellenbach, aber auch Sozialdemokraten wie der Oberbürgermeister von Kiel Andreas Gayk, den er aus der gemeinsamen Arbeit für die 1935 verbotene regimekritische Wochenschrift Blick in die Zeit kannte. Erstere wollten ihn nach Freiburg auf eine Professur für Wissenschaft und Geschichte der Politik lotsen, letzterer warb um ihn für eine vergleichbare Position an der Universität Kiel, wo er schließlich zusagte, zunächst eine außerordentliche, dann 1956 eine ordentliche Professur erhielt.
Nach eigener Aussage bewegte sich Freund in drei Leben, auf die im einzelnen die Verfasserin unser Augenmerk lenkt: auf das des "Universitätslehrers, des Publizisten und des Bücherschreibers". Ein viertes ließe sich hinzufügen: das eines engagierten, bis in die frühen 50er Jahre aktiv in die Politik involvierten Mitglieds der Sozialdemokratischen Partei. Freund gehörte zu den Gründungsvätern der nach 1945 etablierten Politikwissenschaft. Seine eigentliche Passion freilich war die Historie, war die Geschichte der englischen Revolution im 17. Jahrhundert und die der eigenen Zeit, hier vor allem die Epoche des Nationalsozialismus. Diese historische Orientierung war nicht zuletzt gedacht als Ergänzung einer Geschichtsschreibung, die eine eigentümliche Scheu vor der Gegenwart hatte, wusste sich zudem im Einklang mit den anfänglich nicht sehr zahlreichen Kollegen, die im Anhang des Buches tabellarisch aufgeschlüsselt werden; aber in dem Maße, wie sich das Fach ausdrücklich zur Sozialwissenschaft transformierte, sich quantitativer Methoden bediente und sich normativen Konzepten öffnete, begannen Radius und Einfluss zu schwinden. Freunds Bücher, etwa die Deutsche Geschichte, erzielten zum Teil recht hohe Auflagen, waren jedoch eher nach außen an eine interessierte, aufnahmebereite Leserschaft gerichtet als nach innen an die Wissenschaft.
Bemerkenswert war seine journalistische Produktivität. Neben dem Lehramt war er mit geradezu rastloser Energie für verschiedene Zeitungen tätig: für die sozialdemokratische Schleswig-Holsteinische Volkszeitung, die damals noch liberale Welt, für die Zeit und die Gegenwart, die sich in der Nachfolge der 1943 von den Nazis verbotenen Frankfurter Zeitung sah. Mit ihr kam Freund durch Vermittlung Ritters in Kontakt, wurde dort Redakteur und blieb dies auch nach der Berufung auf das Kieler Ordinariat. Als die zunehmend defizitäre Gegenwart zum Jahreswechsel 1958/59 in der Frankfurter Allgemeinen aufging, wurde er von dieser übernommen, was ihm, so die Autorin, "großen öffentlichkeitswirksamen Einfluss" bescherte. Er werde, meinte Freund damals, von seinen Universitätskollegen "liebevoller" behandelt, seitdem sie wüssten, dass er bei der FAZ sei.
Birte Meinschien bietet ein solide recherchiertes Stück Wissenschafts- und Ideengeschichte der Nachkriegszeit, das die verschiedenen Handlungsfelder des Protagonisten kenntnisreich ausleuchtet. Mit Freund portraitiert sie eine Figur, die in der Kombination von urteilsstarkem Journalisten und nach Objektivität strebendem, indes nicht minder meinungsfreudigem Gelehrten heute in der akademischen Landschaft so nicht mehr heimisch ist, wohl auch nicht hätte heimisch werden können. Aber gerade die Verknüpfung von tagesaktueller Publizistik mit einer Politikwissenschaft, die sich stets der in der gelebten Zeit verankerten Ausgangspunkte gewiss ist, macht den Reiz aus, sich mit einer Existenz in Zeiten der politischen Katastrophen und Übergänge zu beschäftigen. Dies mit einer Fülle von empirischen Zeugnissen, geschöpft aus verschiedenen Archiven, nicht zuletzt aus Freunds Nachlass, vergegenwärtigt zu haben, ist ein Verdienst, das nicht gering zu achten ist.
Jens Flemming