Julia Risch: Russen und Amis im Gespräch. Die sowjetisch-amerikanische Telebrücke (1982-1989). Ein vergessener Beitrag zur Beendigung des Kalten Krieges, Berlin: SAXA Verlag 2012, 82 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-939060-37-6, EUR 12,90
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Am 4. Juni 1982 wurde in einer privaten Moskauer Wohnung die Bildung einer unabhängigen Friedensgruppe bekannt gegeben, die sich "Gruppe für die Herstellung des Vertrauens zwischen der UdSSR und den USA" oder kurz "Vertrauen" nannte. Das zweiseitige Gründungsdokument erklärte als Hauptziel der Initiative die Herstellung und Vertiefung eines Vertrauensverhältnisses zwischen den Völkern der UdSSR und den USA auf dem Wege der Organisation eines "vierseitigen Dialogs", an dem nicht nur die Regierungen, sondern auch die einfachen Bürger beider Länder teilhaben sollten. Nur durch gegenseitiges Kennenlernen und Abbau von Feindbildern, auf dem Wege der Entwicklung basisdemokratischer Friedensinitiativen sei eine Annäherung und Vertrauensbildung zwischen den verfeindeten Gesellschaften der USA und der UdSSR möglich, war die Botschaft der von 84 Sowjetbürgern unterzeichneten Erklärung. Keine zwei Monate später verurteilte die Staatsanwaltschaft diese Initiative als eine "antisowjetische", deren Ziel darin bestehe, bewusst Falschbehauptungen zu verbreiten, "die die sowjetische staatliche oder gesellschaftliche Ordnung verleumden". Die Unterzeichner des Dokuments wurden zu mehreren Jahren Haft verurteilt oder diversen Repressionen und Schikanen ausgesetzt. [1]
Der Sowjetstaat duldete keine Bürgerdiplomatie, erst recht nicht, wenn sich die Kommunikation zwischen Bürgern der beiden Supermächte der Kontrolle der kommunistischen Partei entzog. Doch schon einen knappen Monat nach dem Prozess gegen die Mitglieder der Gruppe "Vertrauen" ließ der Kreml eine erste "virtuelle Begegnung" zwischen den Amerikanern und Russen zu - eine Direktfernsehübertragung des Musikfestivals aus dem kalifornischen San Bernardino nach Moskau. Diese gab den Anstoß für eine Reihe weiterer, bis zum Jahr 1990 insgesamt 29 per Satellit übertragener Fernsehbrücken, die für sowjetische und amerikanische Bürger die Gelegenheit boten, zu verschiedenen Themen miteinander zu diskutieren und sich so näher kennenzulernen, freilich: unter staatlicher Aufsicht. Die meisten Sendungen fanden in der Zeit der Perestrojka zwischen 1986 und 1990 statt und erfreuten sich - mehr in der Sowjetunion als in den USA - einer großen Popularität.
Auch wenn die Aufnahme des Dialogs zwischen "Russen und Amis" im Jahr 1982 in keinerlei Beziehung mit der Friedensinitiative "Vertrauen" stand und keineswegs frei von offizieller Staatspropaganda war, setzte seine Intensivierung in den folgenden Jahren die Hauptidee der Gruppe um: Die sogenannten Telebrücken trugen dazu bei, das gegenseitige Misstrauen und das Barrikadendenken auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs abzubauen.
Die Geschichte und die Bedeutung dieser außergewöhnlichen und weitgehend vergessenen Kommunikation zwischen Russen und Amerikanern für die Überwindung des Kalten Krieges hat nun erstmals die Slavistin Julia Risch in ihrer anregenden Diplomarbeit aufgearbeitet. Ihre kleine, hauptsächlich auf Primärquellen basierende Studie erzählt auf knapp 80 Seiten die Entstehungsgeschichte des virtuellen Dialogs zwischen einfachen Sowjetbürgern und Amerikanern und analysiert hauptsächlich an Beispielen einer Reihe von Fernsehsendungen aus der Zeit der Perestrojka das situative Verhalten der Teilnehmer, deren innen- und außenpolitische Einstellungen, Vorurteile über einander sowie die Diskussion von Aspekten des alltäglichen Lebens, wie Genderprobleme, Schwangerschaftsabbrüche und Sexualität, Religion, Journalismus und Medien, Mode und Musik, Kriminalität und Wohnsituation. Mit der analytischen und im jeweiligen historischen Kontext kurz eingebetteten Gegenüberstellung von verschiedenen thematischen Diskussionen zeigt Julia Risch dem Leser, wie unterschiedlich und wie stark von konkurrierenden Denkweisen aber auch von Vorurteilen bestimmt das Bewusstsein der Russen und der Amerikaner war, und wie sehr sich der kommunistische Parteiapparat trotz aller Fortschritte von Gorbačevs Glasnost'-Politik davor fürchtete, die Kontrolle über das Denken und Tun seiner Bürger aufzugeben.
Während für die damaligen Amerikaner die Serie von Fernsehsendungen mit dem Titel Donahue in Russia das Bild eines entmündigten und verängstigten, in kollektivistischem Denken, sozialer Hierarchie und sowjetischer Propaganda befangenen Sowjetbürgers vermittelte, lernten sowjetische Zuschauer den Individualismus und das informelle, in ihren Augen provokante Auftreten der Amerikaner kennen. Zwar wurden die sowjetischen Teilnehmer der Fernsehbrücken vom Parteiapparat genauestens ausgesucht, inhaltlich instruiert und die Sendungen anschließend gemeinhin inhaltlich zensiert. Doch die Spontanität der amerikanischen Gesprächspartner, der heikle Charakter manch angesprochener Themen und gestellter Fragen schufen Situationen, in denen auch persönliche, vom kollektiven Denken abweichende Meinungen und damit auch die Kritik an der sozialistischen Wirklichkeit publik wurden und manchmal ihre Adressaten erreichten.
Interessant ist dabei die mehrfache Feststellung der Autorin, dass die sowjetischen Teilnehmer der Telebrücken trotz der Fortschritte von Gorbačevs Umgestaltung Selbstzensur übten oder vor der Kamera logen. Die daraus abgeleitete Behauptung, es habe kaum jemanden in der Sowjetunion der Perestrojka gegeben, der die demokratischen Reformen in die Tat umsetzte (68), stellt jedoch eine allzu verkürzte Sicht auf die gesellschaftspolitischen Umwälzungen der Perestrojka-Ära dar. Sie relativiert außerdem die Hauptthese der Autorin über die Relevanz der Telebrücken für die Beendigung des Kalten Krieges. Denn die Kommunikation der Bürger zwischen den USA und der UdSSR war zwar revolutionär und für die sowjetischen Teilnehmer meistens herausfordernd. In den späten 1980er Jahren stellten die Fernsehbrücken jedoch keine Singularität mehr dar, sondern vielmehr nur einen kleinen Teil einer Lawine freiheitlicher Emanzipation und politischer Partizipation der Sowjetbürger. Allein im Jahr 1987 strahlte das sowjetische Fernsehen insgesamt 41 Fernsehbrücken aus (davon nur 10 mit den USA); man zählte unionsweit Tausende sogenannte informelle, von unten gegründete Initiativen wie die Gruppe "Vertrauen" und allein in Moskau 180 Fälle nicht sanktionierter Meetings mit rund 15.000 Teilnehmern. Gewiss verzögerten konservative Kräfte und die im Bewusstsein der Menschen tief verankerten sowjetischen Verhaltenskonventionen die Umsetzung demokratischer Reformen. Doch erfolgte die Liberalisierung nicht nur von oben, sondern in all ihrer Radikalität vor allem von unten und erschütterte systemsprengend den sowjetischen Wertekanon innerhalb von nur ein paar Jahren. Genau diese außer Kontrolle geratene Geschwindigkeit der Umsetzung demokratischer Reformen und die damit einhergehende Entideologisierung des Öffentlichen machte die Ost-West-Konfrontation obsolet. Nur im Kontext dieser Umwälzungen und als deren unmittelbarer Teil lässt sich nun auch der Beitrag der Fernsehbrücken zwischen Russen und Amerikanern für den Fall des Eisernen Vorhangs vollends nachvollziehen. Auch wenn dieser wichtige Aspekt der Geschichte im vorliegenden Buch fehlt und über die Bedeutung der Bürgerdiplomatie im Prozess der Überwindung der Ost-West-Konfrontation noch einiges mehr geschrieben werden müsste, bietet Julia Risch mit ihrer Untersuchung einen sehr anregenden Einstieg nicht nur in die Geschichte der intersystemaren Beziehungen auf der Ebene der einfachen Bürger in der Zeit des Kalten Krieges, sondern auch in die Sozial-, Kommunikations- und Alltagsgeschichte der Gesellschaftssysteme beider Supermächte in den 1980er Jahren.
Anmerkung:
[1] Bor'ba za mir v svete kriminalistiki, in: Vek XX i mir, 1990/7.
Yuliya von Saal