Melanie Arndt: Tschernobylkinder. Die transnationale Geschichte einer nuklearen Katastrophe (= Umwelt und Gesellschaft; Bd. 21), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 499 S., ISBN 978-3-525-35208-3, EUR 65,00
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Johannes-Dieter Steinert: Deportation und Zwangsarbeit. Polnische und sowjetische Kinder im nationalsozialistischen Deutschland und im besetzten Osteuropa 1939-1945, Essen: Klartext 2013
Maren Röger / Ruth Leiserowitz (eds.): Women and Men at War. A Gender Perspective on World War II and its Aftermath in Central and Eastern Europe, Osnabrück: fibre Verlag 2012
Julia Risch: Russen und Amis im Gespräch. Die sowjetisch-amerikanische Telebrücke (1982-1989). Ein vergessener Beitrag zur Beendigung des Kalten Krieges, Berlin: SAXA Verlag 2012
In der belarussischen Kleinstadt Ostrovec nahe der polnischen Grenze nahm am 7. November dieses Jahres das erste Atomkraftwerk in Belarus den Betrieb auf. Aljaksandr Lukašenkos Rede vom "Glück" und "Geschenk", das seinem Land damit zufalle, klang wie blanker Hohn - nicht nur, weil der belarussische Präsident damit die gegen ihn gerichteten Massenproteste nach den gefälschten Wahlen vom August und die beispiellos brutale Gewalt gegen die eigenen Bürgerinnen und Bürger demonstrativ ausblendete, sondern auch, weil die Erinnerungen an die Tschernobyl-Katastrophe im Jahr 1986 alles andere als positive Gefühle evozieren. Man erlebt heute einen Déjà-vu-Effekt: Wie zu Sowjetzeiten, als in den Prypjat'-Sümpfen Ende der 1980er Jahren ein vorgeblich "absolut sicheres" Atomkraftwerk gebaut wurde, wird auch das heutige Projekt als das zuverlässigste der Welt, ausgestattet mit den Sicherheitssystemen der neuesten Generation, dargestellt. Einen Tag nach der feierlichen Eröffnung musste das AKW wegen technischer Probleme wieder vom Netz genommen werden.
Hochaktuell ist vor diesem Hintergrund das in diesem Jahr erschienene Buch der Freiburger Historikerin Melanie Arndt über die transnationalen sozialen Auswirkungen der Katastrophe von Tschernobyl, das auf ihre Habilitationsschrift im Jahr 2018 zurückgeht. Die Studie ist innovativ: Sie verbindet überzeugend die regionale Mikrogeschichte mit der Makrogeschichte sowie einer relativ jungen Umweltgeschichte. Das Ergebnis ist ein spannender Forschungsbeitrag, der mit einer Vielzahl neuer Erkenntnisse überrascht.
Das Buch trägt den Titel "Tschernobylkinder", das Arndt als ein diskursives "fluides Ordnungskonstrukt" zur Untersuchung der transnationalen Katastrophenbewältigung heranzieht. Im Fokus stehen nicht der Unfall vom 26. April 1986 selbst und auch nicht die Kinder als die leidtragenden Opfer, obgleich ihre Lebenswege und Einzelbiographien, Selbstwahrnehmungen und Selbstdarstellungen als "historische Subjekte" viel Raum in dieser Studie einnehmen. Vielmehr fragt die Autorin nach der moralischen Wirksamkeit, der Emotionalisierung, der gesellschaftlichen und symbolischen "Macht" der betroffenen Kinder für die internationale humanitäre Bewältigung der Katastrophe, die eine beispiellose Annäherung der sich nach dem langen Kalten Krieg fremden Gesellschaften in Ost und West herbeiführte. Die "sowjetischen Tschernobylkinder" wurden - so Arndt - zu "Kindern des gesamten Planeten" (Kap. 4). Dahinter verbarg sich aber mehr als nur symbolische Rhetorik: Über eine Million betroffener Kinder wurden über 20 Jahre hinweg auf die Reise ins westliche Ausland geschickt. Die Geschichte dieser (vordergründig belarussischen) "Kinderverschickungen", die dahinterstehenden Netzwerke, ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten, Motive sowie die Reaktionen der beteiligten Staaten werden in diesem Buch auf der Basis zahlreicher Quellen in einer äußerst ausgewogenen, empathischen Weise als Teil der postsowjetischen Transitionsgeschichte minutiös rekonstruiert und zugleich spannend erzählt.
Das Buch besteht aus sechs Kapiteln und enthält neben Personen-, Orts- und Sachregister statistische Daten zu den Kinderverschickungen sowie ein Glossar, das die technischen Fachbegriffe erläutert. Nach einem ausführlichen Einstieg in das Thema und einer Einführung in die theoretische und methodische Herangehensweise werden im zweiten Kapitel die ersten Reaktionen Moskaus auf die Katastrophe, die Hilfsangebote aus dem Ausland und insbesondere den USA geschildert. Die Havarie löste ein globales Interesse und eine internationale Hilfsbereitschaft aus, auf die Moskau zunächst mit seiner typischen Abwehrhaltung reagierte, diese aber schon bald aus Not aufgeben musste. Das Katastrophenmanagement der sich bereits im Zerfall befindlichen Sowjetunion, das sich in den Kinderverschickungen und Rehabilitationsmaßnahmen innerhalb der Sowjetunion, in temporären Umsiedlungen sowie kosmetischen Dekontaminierungen betroffener Gebiete erschöpfte, steht im Fokus dieses Kapitels. Auch wenn Arndt vorsichtig urteilt und dem Staat keineswegs pauschal Untätigkeit vorwerfen will, dekonstruiert sie doch das Narrativ vom schlecht informierten Michail Gorbačev und bewertet die Maßnahmen als unzureichend. Diese verstärkten das Misstrauen der Bevölkerung in den Staat und die durch Perestrojka ausgelösten Dezentralisierungstendenzen.
Erst nachdem das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe ans Licht kam und das staatliche Versagen deutlich wurde (trotz Unions- und Republikprogrammen, die schlicht und einfach an finanzielle und strukturelle Grenzen stießen), wurden Forderungen der betroffenen Bevölkerung laut, internationale Hilfe anzufordern. Betroffene Kinder aus der Region um Tschernobyl, die dringend medizinische Hilfe benötigten, spielten in diesem Diskurs zunehmend eine wichtige argumentative Rolle.
Den eigentlichen Mittelpunkt der Studie bilden Kapitel vier und fünf, in denen es um die Kinderverschickungen ins Ausland und deren transnationale Akteurinnen und Akteure geht. Das erste Land, das insgesamt 21.340 Kinder aufnahm, war das sozialistische Kuba. Doch anders als zunächst versprochen, konnten die noch von den Regierungen finanzierten Reisen auf Grund der leeren Staatskassen nicht fortgesetzt werden. Zu Beginn der 1990er Jahren wurden daher staatliche Fürsorgeaufgaben von zivilgesellschaftlichen Initiativen sowohl in der Ukraine als auch in Belarus übernommen. In Belarus war die Stiftung "Den Kindern von Tschernobyl" federführend, wobei deren Initiatoren (das Ehepaar Gruševye) Fundraising-Methoden und das Netzwerken von westlichen Vorbildern lernten und diese auch erfolgreich praktizierten.
Besonders interessant sind die von Arndt herausgearbeiteten differierenden Interessen, die das Handeln diverser internationaler Akteure bestimmten. Im Westen standen oft Exilukrainer oder -Belarussen (so in Kanada) hinter den NGOs, die entweder medizinische Hilfe für Krankenhäuser oder die Behandlungs- bzw. Erholungsreisen für Kinder organisierten. Meistens waren es jedoch religiöse Initiativen, die nicht nur aus reiner "Menschenliebe" handelten, sondern auch aus missionarischem Eifer. Die belarussischen Akteurinnen und Akteure verfolgten hingegen mit der Kinderverschickung das Ziel, die postkommunistische belarussische Gesellschaft zu demokratisieren.
Inwiefern die Verschickungen, vor allem ins kapitalistische Amerika, einen solchen Nebeneffekt mit sich brachten, ist empirisch schwer zu bemessen. Ganz abwegig ist diese These jedoch nicht: Eine Horizonterweiterung bei einer ganzen Generation von Kindern ist offensichtlich und lässt sich an vielen Einzelschicksalen, die Arndt anführt, ablesen. Eine hohe Zahl verschickter Kinder verbrachte jährlich mehrere Monate in einer Aufnahmefamilie und profitierte nicht nur materiell, sondern auch geistig (allein durch das Erlernen einer Fremdsprache) von der weiten, fremden Welt. Manche von ihnen entwickelten enge familiäre Beziehungen zu ihren Gastfamilien. Das ursprüngliche Ziel der Maßnahmen - die Verbesserung der Gesundheit der Kinder - wurde hingegen nur in geringem Maße erreicht.
Die Verschickung der "Tschernobylkinder" war keine einseitige Happy-End-Geschichte. Es ist ein Verdienst dieser Studie, auch auf die Asymmetrien in den Hilfsbeziehungen, auf die Enttäuschungen, Missverständnisse und Wahrnehmungsmuster des Kalten Krieges einzugehen und die Marginalisierung der NGOs in Folge von Lukašenkos Machtfestigung aufzuzeigen. Mit dem Argument, der Westen verderbe die belarussischen Kinder, wurde die humanitäre Hilfe des Auslands seit Mitte der 1990er Jahre stark eingeschränkt und 2018 ganz auf Eis gelegt. Damit verblassten auch die Gefahren der Atomkraft und die Folgen der Katastrophe im Land. Es ist paradox, dass die Mehrheit der befragten "Tschernobylkinder" heute die Nutzung der Atomenergie befürwortet und der belarussische Staat mit demselben Argument wie einst die Sowjetunion auf den "friedlichen Atompilz" setzt.
Es ist das komplexe Spannungsverhältnis nationaler und internationaler Triebkräfte, humanitärer und nationaler Rhetorik sowie politischer und gesellschaftlicher Wirkungen, die Arndt in ihrer Studie elegant herausgearbeitet und diese zu einem so aktuellen wie lesenswerten Buch gemacht hat.
Yuliya von Saal