Rezension über:

Marcel Brüntrup: Zwischen Arbeitseinsatz und Rassenpolitik. Die Kinder osteuropäischer Zwangsarbeiterinnen und die Praxis der Zwangsabtreibungen im Nationalsozialismus, Göttingen: Wallstein 2024, 527 S., ISBN 978-3-8353-3140-2, EUR 46,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Yuliya von Saal
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Yuliya von Saal: Rezension von: Marcel Brüntrup: Zwischen Arbeitseinsatz und Rassenpolitik. Die Kinder osteuropäischer Zwangsarbeiterinnen und die Praxis der Zwangsabtreibungen im Nationalsozialismus, Göttingen: Wallstein 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 3 [15.03.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/03/39682.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Marcel Brüntrup: Zwischen Arbeitseinsatz und Rassenpolitik

Textgröße: A A A

Obwohl die Geschichte der Zwangsarbeit im NS-Deutschland zu den am besten aufgearbeiteten Kapiteln der NS-Herrschaft gehört, gibt es immer noch einige Wissenslücken. Zu solchen Leerstellen gehören beispielsweise osteuropäische Zwangsarbeiterinnen und ihre Kinder oder, um es auf den Punkt zu bringen, die Praxis der Zwangsabtreibungen und der Unterbringung der "rassisch unerwünschten" Kinder in "Ausländerkinder-Pflegestätten", die in den meisten Fällen zum gewollten Tod zehntausender Säuglinge führte. Schätzungsweise 50.000 in Deutschland geborene Kinder fielen dem rassischen und ökonomischen Kalkül zum Opfer. Dieses Kapitel der NS-Geschichte gehört zu den düstersten, und so fällt auch das Lesen der von Marcel Brüntrup an der Universität Münster vorgelegten Dissertation schwer.

Die sorgfältige Studie, die den hohen Anspruch auf die "Gesamtgeschichte der sogenannten Ausländerkinder-Pflegestätten und der damit zusammenhängenden Maßnahmen im Deutschen Reich mit besonderem Fokus auf der normativ-rechtlichen Genese sowie der regionalen und lokalen Umsetzung dieser rassischen Praxis" erhebt (21), gliedert sich in sechs umfangreiche Oberkapitel, die jeweils mit einer Zusammenfassung enden. Die ersten beiden Kapitel sind chronologisch aufgebaut und gehen der normativen Genese des Umgangs einer Vielzahl an NS-Akteuren mit schwangeren Zwangsarbeiterinnen aus den besetzten Ostgebieten nach. Schwangerschaften bei osteuropäischen Frauen stellten für die nationalsozialistischen Machthaber sowohl aus ökonomischen Gründen wie auch aus rassenideologischer Sicht ein besonderes Problem dar. Sie verursachten nicht nur Kosten und behinderten die Kriegsproduktion. Die "rassisch unerwünschten" Kinder osteuropäischer Arbeiterinnen, die als sittlich verdorben galten, gefährdeten aus Sicht der Nationalsozialisten das deutsche Volkstum. Bis zum Herbst 1942 wurden daher die schwangeren Frauen (in der Regel noch Polinnen) kurz vor der Geburt in ihre Heimat zurückgeführt, um sie dann ohne ihr Kind wieder an die Arbeit zu bringen. Weil sich diese Praxis als unbefriedigend erwies - Frauen nutzten die Schwangerschaften, um sich der Zwangsarbeit zu entziehen oder sie gebaren ihre Kinder im "Altreich" - beendete der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz, der thüringische Gauleiter Fritz Sauckel, nach langwierigen Verhandlungen diese Abschiebungen. Das Rückführungsverbot sah die Ausnutzung von schwangeren Frauen bis zum errechneten Geburtstermin, im günstigsten Fall den Schwangerschaftsabbruch oder die Geburt des Kindes in einer abgetrennten Entbindungsstation mit der anschließenden sofortigen Rückkehr der Mutter an den Arbeitsplatz vor. Die "gutrassigen" Kinder der Väter deutscher oder "germanischer" Abstammung waren "einzudeutschen". Durch die intendierte systematische Schlechterstellung der schwangeren Frauen und ihrer Kinder sollte die allgemeine Absenkung der Geburtenrate unter Ostvölkern erreicht werden. Brüntrup zeichnet so minutiös die Planungen, Entscheidungen und die Interessen verschiedener Akteursgruppen nach, dass man zuweilen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Deutlich wird jedenfalls, wie viele verschiedene Behörden auf mittlerer Ebene (Gesundheits- und Landesjugendämter, Fürsorgeverbände, Wirtschaftsunternehmen und verschiedene Funktionäre) an der fortdauernden Aushandlung von bevölkerungspolitischen Praktiken beteiligt waren.

Im dritten Kapitel geht es um die konkreten Orte, an denen die Abtreibungen oder Entbindungen durchgeführt oder geborene Kinder untergebracht wurden. Dabei handelte es sich um öffentliche Krankenhäuser, Universitätskliniken und Hebammenlehranstalten, Lagerreviere der Industriebetriebe, Durchgangs- und Krankensammellager der Arbeitsverwaltung und die Entbindungsheime in der Landwirtschaft. Die öffentlichen Krankenhäuser und Hebammenschulen waren zunächst die einzigen Orte mit minimalen medizinischen Voraussetzungen, die zur Verfügung standen. Doch war die Aufnahme der ausländischen Frauen dort aus rassenideologischen Gründen unerwünscht. Ab Mitte 1943 war sie nur noch in den Universitätskliniken und Hebammenschulen als "Untersuchungsobjekte" zu "Ausbildungszwecken" oder zur Erprobung neuer Abtreibungsmethoden möglich (232). Fast alle größeren Betriebe verfügten ab 1943 über Entbindungs- und Kinderheime, wo ausländische Mütter ihre Kinder zur Welt brachten, um möglichst rasch wieder in die Arbeit zu kommen. In der Landwirtschaft fehlten vergleichbare Einrichtungen zunächst, obwohl die NS-Ideologen gerade auf dem Land die Gefahr einer "rassischen Unterwanderung" durch das Verbleiben "fremdvölkischer" Kinder auf den Höfen sahen. Erst im Jahr 1944 wurden von den Kreisbauernschaften mit Unterstützung der Kommunalverwaltungen und lokaler Parteidienststellen notdürftige Entbindungs- und Pflegeheime eingerichtet. Generell lag die Unterbringung der Neugeborenen in der Zuständigkeit der Arbeitsämter, der Arbeitgeber oder der jeweiligen Gemeinden.

Die konkreten Zuständigkeiten waren jedoch aufgrund unsicherer Rechtsgrundlage oft unklar und die Behandlung schwangerer Arbeiterinnen und ihrer Kinder auf kommunaler Ebene unterschiedlich. Die oft über ihre Kompetenzen hinausgehende Mitwirkung verschiedener staatlicher, parteiamtlicher und öffentlicher Institutionen der Wohlfahrtspflege (katholische Fürsorgewerke, Kinderheime, Stiftungswesen, Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) wird im fünften Kapitel betrachtet, wobei der Autor hier zu Recht auf die Schlüsselposition des Rasse- und Siedlungshauptamts der SS verweist. Trotz gegenläufiger Richtlinien kam es vor, dass ausländische Frauen und ihre Kinder teilweise in den privaten und kirchlichen Wohlfahrtseinrichtungen unterkamen.

Die konkreten Erfahrungen der betroffenen Frauen stehen im Fokus des fünften Kapitels, das mit einer statistischen Bestandsaufnahme von "Ausländerkinder-Pflegestätten" und der Opfer der nationalsozialistischen Rassepolitik endet. Verlässliche Zahlen fehlen. Brüntrups konservative Schätzung liegt bei mindestens 100.000 ausländischer Geburten mit einer durchschnittlichen Sterberate von 50% und etwa 400 Orten, an denen Entbindungsstationen für ausländische Zwangsarbeiterinnen oder "Ausländerkinder-Pflegestätten" bestanden. Die Todesrate in manchen Orten betrug nahezu 100%. Die von Brüntrup zusammen mit seiner Doktormutter Isabel Heinemann übernommene Datenbank, die auf Recherchearbeit von Bernhild und Florian Vögel basiert, dürfte daher in Zukunft noch wachsen. [1]

Am Beispiel der drei britischen Kriegsverbrecherprozesse zu den "Ausländerkinder-Pflegestätten" in Velpke, Rühen und Lefitz wird schließlich im sechsten Kapitel ein umfassender Blick in die Organisation, lokale Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten auf der Kreisebene sowie die konkreten Zustände in den Heimen auf Grundlage der Zeugenaussagen gewährt. Die Überlieferungen zeigen, dass "Heime" in den für Kinder völlig ungeeigneten improvisierten Gebäuden eingerichtet wurden, in denen haarsträubende Zustände herrschten und Epidemien grassierten. Mütter standen unter Zwang ihre frisch geborenen Kinder abzugeben und durften sie nur selten, wenn überhaupt, besuchen; meistens wurden sie nicht einmal über den Tod ihrer Kinder informiert. Das Sterben von Säuglingen ging zwar nicht auf einen konkreten Befehl zurück, es war aber nicht ungewollt und ergab sich aus einer mutwilligen Vernachlässigung und Gleichgültigkeit seitens des zuständigen Personals. Die von den Briten erhobene Anklage lautete auf die Tötung durch absichtliche Vernachlässigung oder Misshandlung. Grotesk ist dabei das Zurückweisen der Verantwortung seitens der Angeklagten, die die Schuld für das Massensterben der Säuglinge nicht bei sich sahen, sondern in der "ethnisch bedingten Unverträglichkeit künstlicher Säuglingsnahrung" (481), in der Konstitution der Säuglinge oder der Primitivität deren Mütter. Obwohl der nationalsozialistischen Weltanschauung in den Prozessen noch wenig Bedeutung beigemessen wurde - es ging vielmehr um die individuelle Schuld der Angeklagten -, gelingt es Brüntrup mit seiner Arbeit, den ungeheuren Stellenwert der Rassenideologie mit all ihren tödlichen Konsequenzen aufzuzeigen. Dabei werden immer wieder die engen Verflechtungen mit den ökonomischen Motiven bei gleichzeitiger Radikalisierung beider Prämissen sichtbar. Die Studie zeigt außerdem überzeugend, dass die verschiedenen Praktiken des Umgangs mit den schwangeren Zwangsarbeiterinnen und ihren Kindern keinem klaren Plan folgten, sondern kurzfristige Übergangslösungen darstellten. Genauso wenig wie die NS-Akteure auf die vielen Kinder und Jugendlichen in den besetzten Gebieten der UdSSR vorbereitet waren, auf deren Präsenz sie bis zum Kriegsende mit improvisierten Ad-hoc-Maßnahmen und radikalisierter Kriegsführung reagierten, mussten sich die NS-Funktionäre mit den in Deutschland geborenen Kindern der Zwangsarbeiterinnen immer wieder neu arrangieren.

Obwohl von den Alliierten eine Reihe von vergleichbaren Ermittlungen wie zu den drei genannten Heimen eingeleitet wurde, blieb das Ausmaß des grausamen Systems der "Ausländerkinder-Pflegestätten" mit dem bewussten Herbeiführen des Todes von zehntausenden Säuglingen bis in die jüngste Zeit unerkannt. Trotz der schwierigen Quellenlage und der Zuständigkeitskomplexität ist es dem Autor sehr gut gelungen das Schicksal schwangerer Zwangsarbeiterinnen und ihrer (un)geborenen Kinder ins historische Gedächtnis und hoffentlich auch ins öffentliche Bewusstsein zu rufen.


Anmerkung:

[1] URL der Datenbank: https://zenodo.org/records/10782298

Yuliya von Saal