Thomas M. Bohn / Dietmar Neutatz (Hgg.): Studienhandbuch östliches Europa. Bd. 2: Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion (= Böhlau Studienbücher: Grundlagen des Studiums), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, XII + 539 S., 4 Karten, ISBN 978-3-412-14098-4, EUR 25,50
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Julia Risch: Russen und Amis im Gespräch. Die sowjetisch-amerikanische Telebrücke (1982-1989). Ein vergessener Beitrag zur Beendigung des Kalten Krieges, Berlin: SAXA Verlag 2012
Maren Röger / Ruth Leiserowitz (eds.): Women and Men at War. A Gender Perspective on World War II and its Aftermath in Central and Eastern Europe, Osnabrück: fibre Verlag 2012
Alfred Eisfeld / Guido Hausmann / Dietmar Neutatz (Hgg.): Besetzt, interniert, deportiert. Der Erste Weltkrieg und die deutsche, jüdische, polnische und ukrainische Zivilbevölkerung im östlichen Europa, Essen: Klartext 2013
Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert, München: C.H.Beck 2013
Dem Trend, Europa nur noch in den Grenzen der Europäischen Union zu verstehen, entgegenwirkend, haben sich die Autoren des Studienhandbuches "Östliches Europa" eine große Aufgabe vorgenommen, nämlich "ein breiteres Publikum mit den spezifischen Traditionen dieses historischen Raumes vertraut [zu machen]" (VII). Gemeint ist der russische Raum und seine Geschichte. Das Handbuch ist der zweite Band der Reihe "Östliches Europa". Die Besonderheit dieses Handbuches liegt zunächst in dem wissenschaftlichen Pluralismus - 38 Verfasser haben daran gearbeitet und ihre eigene Herangehensweise zur Geschichte vermittelt. Daher wird man vergebens nach einem einheitlichen Schema in dem Buch suchen. Die Beiträge findet man in der Form von eigenständigen Artikeln auf 482 Seiten, ergänzt durch zusätzliche und wertvolle Angaben im Anhang. Das Handbuch stellt aber keine bloße Datensammlung dar, wie die Herausgeber selbst im Vorwort betonen, sondern ein mit neuen Perspektiven und Interpretationen angereichertes Hilfsmittel, das auf schon bestehende Lexika, wie zum Beispiel die von Hans-Joachim Torke [1] aufbaut.
Herausgeber und Autoren haben sich zum Ziel gesteckt, gegenüber den üblichen Problemfeldern wie Politik oder Sozialgeschichte die noch weniger behandelten wie Kultur oder Alltag des russischen Raumes in den Blick zu rücken. Den Anspruch einer Gesamtdarstellung der russischen Geschichte erheben sie bewusst nicht, wollen aber einen einfachen und schnellen Einstieg in den heutigen Forschungsstand und einen Überblick über die weiterführende Literatur bieten.
Die Gliederung des Buches lässt sich weder auf das regionale Prinzip noch auf geschichtliche Ereignisse zurückführen. Es ist in sechs große Abschnitte unterteilt, die sich einzelnen Problemfeldern widmen. Der erste Abschnitt trägt die allgemeine Überschrift "Grundlagen". Hierunter fallen methodische und sachthematische Themen, wie zum Beispiel "Quellenkunde, Archive", "Religion", "Außenpolitik" und so weiter. Der zweite besteht aus Texten zu sechs verschiedenen Epochen: von der "Kiever Rus'" bis zur "Perestrojka". "Probleme und Interpretationen" ist der dritte Teil überschrieben, in dem Sachthemen, wie "Bürokratie", "Stalinismus" oder "Kolonisation" behandelt werden. Der vierte Abschnitt befasst sich mit neun ausgewählten Großregionen des Russischen Reiches, wobei einige von ihnen heute souveräne Staaten sind (wie zum Beispiel die Ukraine oder die Republik Belarus). Nationalitäten, zum Teil unbekannte Minderheiten und Gruppen des Russischen Reiches / der Sowjetunion bilden den Gegenstand des fünften Teils. Schließlich verfügt das Werk über einen umfänglichen Anhang, der einen eigenständigen sechsten Abschnitt bildet. Hier findet sich eine Übersicht einschlägiger Forschungseinrichtungen, eine umfangreiche Liste von Internet-Ressourcen, Transliterations- und Nationalitätentabellen, ein Glossar sowie Sach-, Orts- und Personenregister, die insgesamt eine sehr gute Orientierung ermöglichen. Das Ganze wird mit einem ausführlichen Mitarbeiterverzeichnis und vier bunten Faltkarten vervollständigt.
Das Studienhandbuch bietet zahlreiche Einblicke in die Grundzüge der Geschichtsforschung zum Russischen Reich und Sowjetunion und behandelt Themengebiete, denen man in Einführungen selten als eigenständige Schlagworte begegnet, wie zum Beispiel "Bürokratie". Die Form ist das innovative in diesem Buch. Jeder Aufsatz ist eigenständig und mit Hinweisen auf den Forschungsstand sowie auf Probleme und offene Fragen in den einschlägigen Handbüchern oder Lexika versehen. Jeder Autor ergänzt seinen Beitrag mit einer Auswahlbibliografie der wichtigsten Quellen, Hilfsmittel und Darstellungen, was eine gute Basis für die weitere Einarbeitung in das Thema bietet. Insbesondere für Studenten, die die eigentliche Zielgruppe sind, sind die kurzen bibliografischen Darstellungen zu den Einzelthemen eine große Hilfe - zweifellos ein wichtiger Vorzug des Buches. Eine einseitige Orientierung an der westlichen Forschung wird durch Hinweise auf russischsprachige Werke vermieden. Auch das ist ein als Pluspunkt zu verzeichnen.
Als Novum ist auch die gut durchdachte Behandlung von methodischen "Grundlagen" hervorzuheben, welche vielen Studierenden keineswegs so klar sind: "Quellenkunde, Archive" oder "Historiographie, Forschungseinrichtungen". Hier erfährt man Genaueres über die Arten von russischen Quellen, ihre Besonderheiten bezüglich der Datierung oder Sprache. Ebenso klar sind in diesem Buch das System der Archive und ihre Benutzung in den heutigen GUS-Ländern dargestellt. Eine Liste von Archiv- und Bestandsverzeichnissen sowie Archivführern im ersten Teil des Buches bringen nicht nur einen fortgeschrittenen Studierenden auf die richtige Spur.
Auch die nach Städten geordnete Auswahl von Forschungseinrichtungen und Dokumentationen im deutschen und zum Teil russischsprachigen Sprachraum mit den Angaben der Kontaktdaten (Adresse und Telefonnummern) ist ein wertvoller Service.
Doch die so genannten "Grundlagen" sind nicht die einzigen Vorteile dieses Buches. In dem Anhang findet man eine umfangreiche "Studienbibliothek zur Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion" auf 27 Seiten, welche zusätzlich zu den Bibliografien jedes einzelnen Absatzes einen umfassenden Überblick über fortlaufende und abgeschlossene Bibliografien, solche zu einzelnen Epochen und Themenbereichen sowie über Hilfsmitteln und Zeitschriften und vieles mehr gibt (insgesamt 509 Angaben). Wer sich für statistische Angaben beziehungsweise die Volkszählungen interessiert, wird mit einer Nationalitätentabelle sehr gut bedient. Zahlreiche unbekannte, oft russische Begriffe sind in Glossar und Sachregister im Anhang des Buches kurz erklärt.
Obwohl Autoren dieses Studienhandbuches viele nützliche Informationen zu den einzelnen Fragestellungen geben und den Einstieg in die Geschichte dieses Raumes zweifellos erleichtern, liefert das Buch kaum eine geschlossene Gesamtdarstellung der Geschichte des Russischen Reiches beziehungsweise der Sowjetunion. Möglicherweise liegt es an dem schon erwähnten Vorzeichen des Pluralismus. So werden manche in Inhalt und Umfang unvergleichbare Probleme gleich beziehungsweise nicht genügend behandelt. Das Thema "Revolution und Bürgerkrieg" ist zum Beispiel auf nur vier Seiten Text komprimiert und erscheint zu kurzatmig im Vergleich zur quantitativ größeren Behandlung von "Geschlechter, Familie" auf sieben Textseiten.
Außerdem finden viele für russische Geschichte wichtige Ereignisse keine eigene Überschrift und werden nur im Kontext in einem anderen Zusammenhang erwähnt. Ein Beispiel dafür bilden die Zeit der Großen Reformen und diese Reformen selbst, angefangen mit der Bauernbefreiung 1861 - Meilensteine in der russischen Geschichte. Diese doch sehr wichtigen Ereignisse erhalten leider keinen eigenen Platz in dem Buch, das dadurch etwas unvollständig wirkt.
Ein weiteres Minus ist eine "Vernetzung" des Buches - laufende Verweise von einem Kapitel in das andere wecken nicht selten das Gefühl, es mit einer oberflächlichen Darstellung zu tun zu haben. Man verliert sich im Buch und bekommt kein vollständiges Bild von bestimmten Sachverhalten. Die so genannte "Vernetzung" kann man jedoch dann als vorteilhaft betrachten, wenn man sich schnell über ein Thema orientieren möchte und nach einem "Start" für die weiteren Recherchen sucht. Aber leider, wie schon oben erwähnt, trifft es nicht für jedes Thema zu.
Die Beurteilung des Buches fällt somit zweideutig aus. Zum einen werden einige der von den Autoren selbst gesteckten Ziele, wie dem Fachpublikum den Einstieg in die Geschichte des östlichen Europas zu erleichtern und Basisinformationen zu Spezifika dieses Raumes zu vermitteln, sicher erfüllt. Komplexe Sachverhalte sind zwar von kompetenten Autoren zusammengefasst worden, manche fehlen jedoch. Das Buch ist weder ein Lexikon noch eine Gesamtdarstellung. Es ist ein Experiment des Mittelweges. Deswegen eignet sich das Studienhandbuch Östliches Europa perfekt als eine Ergänzung zu den üblichen Studienbüchern, doch kommt es über die Grenzen eines Nachschlagewerkes beziehungsweise eines nur manchmal nützlichen Hilfsmittels nicht hinaus. Sicher für Studenten sehr hilfreich ist der Methodenteil, weniger aber die Geschichtsdarstellung. Die bewusste Reduzierung auf Kultur und Alltag lässt viele Problemfelder außer Acht und führt zu einer lückenhaften Erschließung des historischen Raumes des Russischen Reiches und der Sowjetunion.
Anmerkung:
[1] Hans-Joachim Torke: Lexikon der Geschichte Rußlands. Von den Anfängen bis zur Oktober-Revolution. München 1985. Ders. (Hrsg.): Historisches Lexikon der Sowjetunion 1917/22 bis 1991. München 1993.Ders. (Hrsg.): Einführung in die Geschichte Rußlands. München 1997.
Yuliya von Saal