Elizabeth White: A Modern History of Russian Childhood. From the Late Imperial Period to the Collapse of the Soviet Union, London: Bloomsbury 2020, 217 S., ISBN 978-1-4742-4021-5, GBP 19,99
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Trotz des bemerkenswerten Interesses an Kindern und Kindheit in den Geschichtswissenschaften war die über 700 Seiten gehende Monografie von Catriona Kelly [1] bisher die einzige auf das 20. Jahrhundert ausgelegte Darstellung über Russland bzw. die Sowjetunion. Eine längst überfällige und epochenübergreifende Synthese der Forschung bietet nun ein neues Buch der britischen Russlandhistorikerin Elizabeth White. Die Autorin hat eine Geschichte der Kindheit in Russland ab dem 17. Jahrhundert bis heute vorgelegt. Das im Vergleich zu Kellys Standardwerk eher dünnes Buch stimmt auf den ersten Blick skeptisch. White erhebt den hohen Anspruch, eine Geschichte der Kindheit über zwei Jahrhunderte hinweg auf 166 Textseiten darzulegen. Doch bereits nach wenigen Seiten lösen sich solche Bedenken auf: White liefert nicht nur eine eloquente, dicht und dennoch flüssig geschriebene Synthese der bisherigen Forschung, sondern sie bringt auch unterschiedliche Standpunkte und Argumente zusammen, weist auf Lücken und Ambivalenzen der bisherigen Forschung hin. Die Autorin interessiert sich vor allem für die staatlichen Ideen und Konzepte der Kindheit, für Familienpolitik und den Grad des Zugangs zu Bildung als ein wesentliches Element der modernen Kindheit, die sie in historischer Perspektive erforscht und den Entwicklungen im westlichen Europa gegenüberstellt. Zudem hat White den Anspruch, den Erfahrungshorizont der Kinder miteinzubeziehen. Eingegrenzt (jedoch nicht wirklich durchgehalten) wird die Darstellung durch den Fokus auf die Schulkinder ab dem 6. Jahr und auf das europäische Russland. Das Buch ist chronologisch aufgebaut und besteht aus Einleitung, sechs Kapiteln und einem siebten als Postskriptum, das auf die Kindheit im heutigen Russland eingeht. Im Schlussteil (Kap. 8) fasst sie die Hauptelemente des sowjetischen Kindseins zusammen und zieht Parallelen zum westlichen Modell der Kindheit.
Whites Geschichte beginnt mit der Entdeckung der Kindheit in Russland im späten 17. Jahrhundert. Peter der Große sah in Kindern das benötigte humane Kapital für die Transformation Russlands in ein europäisches Land und antizipierte entsprechende Reformen - etwa Maßnahmen gegen die weit verbreitete Praxis der Kindstötung. Zu einem Konzept konnte sich Kindheit aber erst unter Katharina II., bekannt als die Große, und unter dem Einfluss der auf die Zukunft gerichteten aufklärerischen Kindheitsbilder am Ende des 18. Jahrhunderts ausdifferenzieren. Europäische Denker wie John Locke und Jean-Jacques Rousseau sowie Katharinas Berater Ivan Becskoj waren dabei die wichtigen Impulsgeber. Vor allem durch Bildung sollten Kinder zu "nützlichen" Untertanen erzogen werden. Unter Katharina kam die Vorstellung einer "richtigen Erziehung" (vospitanie) auf, die sich zum Kernelement des russischen und später des sowjetischen Kindheitskonzepts entwickeln sollte. Als weitere Neuerungen beschreibt White die Entstehung der Vorstellung vom gewaltfreien Umgang mit dem Kind, den Ausbau des schulischen Bildungssystems und sozialer Fürsorgeeinrichtungen, wobei auch Mädchen als eigene Akteure zum ersten Mal ernst genommen wurden. Rousseaus Auffassung, dass Mädchen keine höhere Bildung benötigen, teilte Katharina jedoch nicht (sie ließ sogar sein Werk "Emile" nur in rezensierter Version zu). Ähnlich wie in Europa setzte auch in Russland zu dieser Zeit eine Medikalisierung, Professionalisierung, Verwissenschaftlichung und Kommerzialisierung der Kindheit ein. Nicht alle Neuerungen waren allerdings erfolgreich (die Sterberate in den Waisenhäusern betrug z. B. 90 Prozent), und ausschließlich die adeligen Kinder und somit nur eine geringe Minorität der russischen Gesellschaft profitierten davon. Das nach Ständen verzweigte Bildungssystem des späten imperialen Russland (Kap. 3) sorgte wiederum für die Verfestigung sozialer Distinktionsformen. Ungeachtet aller Modernisierungen sollte das Bild der paternalistischen Romanov-Dynastie aufrechterhaltet bleiben. Diese war nicht anders als ihre Vorgänger in erster Linie daran interessiert, Kinder zu ergebenen Untertanen zu erziehen und nicht zu freien Persönlichkeiten. Die Abgrenzung zwischen den Ständen sollte bestehen bleiben. Der Staat hatte kein Interesse an einem einheitlichen Modell der Kindheit und so variierten Konzeption und Realität abhängig davon, in welchen Stand man geboren worden war.
Erst unter dem Eindruck des verlorenen Krimkriegs und gesellschaftlicher Umwälzungen war die russische Monarchie zu Reformen gezwungen, die nun auch den Bauernkindern den Zugang zur Grundschule eröffneten. Unter dem Einfluss westlicher Ideen änderte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch die Einstellung über den Zweck der Bildung fundamental: Kinder sollten nicht mehr zu loyalen Staatsbürgern, sondern zu vielseitig gebildeten und harmonischen Individuen erzogen werden. Die Intelligenzija, die diese progressiven westlichen Ideen in Russland verbreitete, hoffte, durch die Bildung der Bauernbevölkerung die bestehende soziale Distinktion aufbrechen zu können. Solche Elemente einer modernen Kindheit wie die Befreiung von Arbeit, Bildung, emotionale Aufwertung innerfamiliärer Beziehungen, Verbesserung der Gesundheitsvorsorge usw. konnten sich erst am Ende des 19 Jahrhunderts und gegen den Willen der russischen Monarchie durchsetzen, so White. Das Kind wurde zum Hauptsubjekt des wissenschaftlichen Interesseses und gewann am emotionalen Wert in der Familie.
Eine radikale Änderung und Beschleunigung des Konzepts der modernen Kindheit brachte freilich die Oktoberrevolution. Erst nach 1917 und mit der Implementierung einer Reihe von neuen Gesetzen wurden Kinder zu einer eigenen sozialen Gruppe mit Rechtsansprüchen. Sie wurden zu Akteuren, zu kleinen Revolutionären, die gegen die bäuerliche Rückständigkeit, patriarchale Verhältnisse und ideologische Verfehlungen in ihren Familien zu kämpfen hatten. Zugleich stellten sie das Material des künftigen "neuen Menschen" dar, der noch zu formen war. Diesen Durchbrüchen, bolschewistischen Erziehungsexperimenten, die sich bis Mitte der 1920er Jahren hinzogen, aber auch Kontinuitäten (begrenzte Verbesserung der Lage von Bauernkindern) und sozialen Kalamitäten (Krieg und Kinderverwahrlosung) ist das vierte Kapitel "Childhoods in Revolution, Civil War and Austerity" gewidmet. Ein fünftes Kapitel fasst die Besonderheiten der Kindheit im Stalinismus und im Zweiten Weltkrieg zusammen, die White unter Verweisen auf die neuesten Forschungen durchaus als ambivalent diskutiert. Zwar folgte auf das revolutionäre Bild des emanzipierten und partizipierenden Kinds ein neues Konzept der Höflichkeit, Dankbarkeit und Gehorsams unter Stalin, begleitet mit der ideologischen Rehabilitierung und Festigung der zuvor für überflüssig erklärten Familie. Doch war dieser Wandel nicht geradlinig, sondern voller Widersprüche, die White sehr gut nachzeichnet. Spätestens mit dem Ausbruch des Kriegs wurde das Kind wieder zum Handeln aufgefordert. Aus einer "glücklichen" wurde eine "opfernde" Kindheit. [2] Die Frage, wie erfolgreich der Staat bei der ideologischen Erfassung und Durchdringung der Kinder war oder ob doch die Familie als Privatzelle ihre Wirkmächtigkeit behielt, bleibt offen. Ohne Zweifel war der staatliche Zugriff auf Kinder unter Stalin am größten. Erst mit der Etablierung der Schulpflicht in den 1930er Jahren erfolgte die Ablösung des agrarwirtschaftlich geprägten Modells der Kindheit durch das moderne, dem westlichen Modell nahen Konzept. Diese Jahre bewertet White als modelhaft für die künftige sowjetische Kindheit.
Weitgehend unkontrovers werden Kindheiten der Nachkriegszeit bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion im Kapitel sechs diskutiert. Die Politisierung der Kinder setzte sich zwar weiterhin fort. Statt für Revolution mussten Kinder nun für den Weltfrieden, Abrüstung, Dekolonisierung usw. "mitkämpfen"; sie blieben als "privilegierte Klasse" zentral in der sowjetischen Propaganda. Doch mit fortschreitender Urbanisierung, Privatisierung des familiären Lebens, Verkleinerung von Familien und gesellschaftlichem Wandel verfestigte sich auch das in Russland bis heute gültige Bild vom Kind als emotional kostbaren Schatz und Individuum. [3] Erst Ende der 1980er und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geriet das Modell der sakralisierten Kindheit in Gefahr.
Whites Interesse gilt auch Genderfragen und kulturhistorischen Themen. In allen Kapiteln geht sie auf die Besonderheiten der Kinderkultur und Literatur ein, stellt das stilisierte Bild des Kinds der sowjetischen Realität und der dramatischen Situation von verwahrlosten Kindern (besprisornye) und Waisen gegenüber, die zu einem Dauerproblem der Sowjetunion bis in die späte Nachkriegszeit gehörten. Diese und andere bis heute sichtbare Kontinuitäten (Bedeutung von Erziehung, Politisierung der Kindheit oder die Frage nach Grenzen der familiären Autonomie) werden souverän beschrieben.
Selbst Gesamtdarstellungen können nur einen Teil der Forschung rezipieren. Viel zu unübersichtlich ist das interdisziplinäre Forschungsfeld, das Kindheitsgeschichte ausmacht; erst recht wenn es sich um mehrere Epochen handelt. White ist ein prägnanter argumentativer Austausch auf dem neuersten Forschungsstand gelungen. Das Buch hat dennoch einige Schwächen. So beschränkt sich White überwiegend auf die englischsprachige Forschung. Einen vollständigen Überblick über die russische bzw. postsowjetische Forschungslandschaft bietet das Buch nicht. Auch wenn einzelne einschlägige Namen auftauchen, werden bedeutende Studien nicht genannt. Diese offensichtlich auf sprachliche Barrieren zurückzuführende Beschränkung schlägt sich in zahlreichen, sich wiederholenden Fehlern bei den Titelangaben und Transliterationen russischer Begriffe und Namen nieder. Die häufigen Fehler sind so störend, dass man über die Schlampigkeit des Lektorats nur staunen kann. Daneben finden sich auch sachliche Fehler, etwa die Behauptung, das erste Jugendgericht sei 1910 in Moskau eröffnet worden (in Wirklichkeit war es St. Petersburg). Ebenso fehlerhaft und voller Lücken sind Quellenverzeichnis und Bibliografie; viele in den Fußnoten zitierten Autoren und Archivquellen sucht man dort vergebens. Schwer ins Gewicht fällt schließlich der nicht eingelöste Anspruch, die Erfahrungsperspektive der Kinder einzufangen, was wiederum auf die begrenzte Rezeption russischsprachiger Literatur zurückzuführen ist, in der es an autobiografischen Zeugnissen vor allem zur jüngsten Vergangenheit nicht mangelt.
Trotz dieser Kritik ist das Buch jedem zu empfehlen, der sich für die Geschichte der russischen Kindheit interessiert oder nach einer Zusammenfassung des Forschungsstands sucht. Das Buch eignet sich hervorragend für die universitäre Lehre und man kann es als eine Geschichte vom langen Weg Russlands in die Moderne lesen. Kindheit ist ein umkämpftes politisches und kulturelles Konstrukt. Das letzte Kapitel macht deutlich, dass in Russland um seine Inhalte immer noch und teilweise entlang altbekannter Trennlinien gerungen wird. Die jahrhundertealte Konstante ist der starke autoritäre Staat, der ein Modell der Kindheit "of its own making" verfolgt (166).
Anmerkungen:
[1] Catriona Kelly: Children's World. Growing Up in Russia, 1890-1991, New Haven 2007.
[2] Julie K. deGraffenried: Sacrificing Childhood: Children and the Soviet State in the Great Patriotic War, University Press of Kansas 2014.
[3] Viviana A. Zelizer: Pricing the Priceless Child. The Changing Social Value of Children, Budapest 1985.
Yuliya von Saal