Anastasia Antipova: Die nationalsozialistische Sprachpolitik im besetzten Weißrussland 1941-1944 (= Linguistik International; Bd. 41), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2018, 365 S., 4 Tbl., eine Kt., ISBN 978-3-631-74722-3, EUR 69,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Konrad Maier (Hg.): Nation und Sprache in Nordosteuropa im 19. Jahrhundert, Wiesbaden: Harrassowitz 2012
Hugo Service: Germans to Poles. Communism, Nationalism and Ethnic Cleansing after the Second World War, Cambridge: Cambridge University Press 2013
Silke Mende: Ordnung durch Sprache. Francophonie zwischen Nationalstaat, Imperium und internationaler Politik, 1860-1960, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020
Boris N. Kovalev: Povsednevnaja iznʹ naselenija Rossii v period nacistskoj okkupacii. [Das Alltagsleben der Bevölkerung Russlands in der Periode der nazistischen Besatzung], Moskva: Molodaja Gvardija 2011
Thomas M. Bohn / Dietmar Neutatz (Hgg.): Studienhandbuch östliches Europa. Bd. 2: Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002
Elizabeth White: A Modern History of Russian Childhood. From the Late Imperial Period to the Collapse of the Soviet Union, London: Bloomsbury 2020
"Die Aufgabe eines Reichsministeriums für den Osten besteht also in dieser verschiedenartigen Behandlung der zahlreichen Völkerschaften dieses Raums, in der Erkenntnis und Beobachtung der Entwicklungen dieser Nationen und in der zentralen Lenkung der gesamten politischen Führung in diesem Raum." [1] Dieser Auszug aus der Rede von Reichsminister Alfred Rosenberg anlässlich eines Presseempfangs am 18. November 1941 beschreibt ein Herrschaftsmodell des divide et impera, das dem Nationalismus der osteuropäischen Völker Zugeständnisse machte, um sie im gleichen Atemzug zu zersplittern, zu lenken und langfristig gegen Moskau in Stellung zu bringen. Bekannt sind vor allem politische Zugeständnisse an die Esten oder Ukrainer; weniger bekannt ist, dass auch den Belarussen eine Art nationaler Zukunft im "neuen Europa" unter deutscher Suprematie in Aussicht gestellt wurde. Anastasia Antipovas Studie, die sie als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen verteidigt hat, schildert, wie das als "Dekompositionspolitik" bezeichnete Herrschaftsinstrument Rosenbergs auch bei den angeblich "rassisch minderwertigen" Weißrussen Anwendung fand. Die nationalsozialistische Besatzungspolitik in Weißrussland wurde bereits von Christian Gerlach und Bernhard Chiari ausführlich dargestellt [2]. Antipova geht darüber hinaus und untersucht die Besatzung explizit anhand von Sprache, die sie im Sinne Rosenbergs als eine politische "Größe", als Hebel und in ihrer Funktion in der Verwaltung, im Schulwesen und in ihrer Presse analysiert. Ausgehend vom verwaltungsterritorialen Konzept setzt sie sich mit der NS-Sprachpolitik auseinander. Erfreulicherweise geht sie dabei komparatistisch vor und bezieht auch die Ukraine und das Baltikum in die Untersuchung mit ein. Der Schwerpunkt liegt freilich auf dem Generalkommissariat Weißruthenien samt seinen Institutionen und der mit den Deutschen kollaborierenden Akteure.
Was auf den ersten Blick als kleinteilig und speziell erscheinen mag, erweist sich als eine einleuchtende - wenn auch stellenweise etwas redundante - Lektüre, die einen weiten Bogen von der Entstehung der weißrussischen Sprache bis hin zu ihrer Bedeutung im heutigen Belarus spannt. Das Buch ist in neun Kapitel gegliedert und enthält einen umfassenden Quellen-Anhang. Den Ausgangspunkt bilden die knappe Einführung in die Geschichte und das System der weißrussischen Sprache (Kap. I) und die Beschäftigung mit der deutschen Sprachwissenschaft der Zwischenkriegszeit (Kap. II). In den 1920er Jahren war der Standpunkt der Vertreter der sogenannten Muttersprachfraktion weit verbreitet, dass die Sprache eine der "Rasse" übergeordnete und assimilierende Macht und Zweisprachigkeit grundsätzlich schädlich sei. Nach der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten galt die "Rasse" als "volksformende" Kraft, doch der Sprache wurde weiterhin assimilierende Wirkung zugeschrieben. Diese Auffassungen der sprachvölkischen Schule teilte auch Rosenberg (obgleich er im Gegensatz dazu Zweisprachigkeit als Vorteil sah); sie fanden daher Eingang in die Sprachpolitik des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete (RMfdbO). Antipova analysiert die Sprachrichtlinien des RMfdbO in ihrer Entwicklung (Kap. IV), wobei sie dabei unterschiedliche Bestimmungen und die Funktionen der deutschen Sprache im Baltikum, im Generalkommissariat Weißruthenien (GW) und im Reichskommissariat Ukraine (RKU) vergleichend herausarbeitet. Diese NS-Sprachpolitik war freilich nicht ohne Widersprüche und unterschied sich innerhalb der besetzten Ostgebiete. So war im Reichskommissariat Ostland (RKO) die Erlernung deutscher Sprache zwar grundsätzlich möglich, im Baltikum jedoch sollte sie der Assimilierung von "rassisch würdigen" Balten dienen, während sie im GW lediglich unterstützend zugelassen wurde. Dort sollte in erster Linie die Weißruthenische Sprache gefördert werden, um den Einfluss des Russischen zurückzudrängen. So wurde das weißrussische Alphabet sogar auf Lateinschrift umgestellt, was sich in der Praxis jedoch nicht durchsetzen konnte. In den baltischen Ländern wiederum galten dort ansässige Weißrussen (aber auch Polen und Russen) als Minderheit, die als "rassefremde Völker" kein Deutsch lernen durften. Im Unterschied zum RKO waren die Erlernung des Deutschen und der Gebrauch des Russischen im RKU unerwünscht und möglichst zu verbieten. Deutsch sollte in der Ukraine wie in Russland die Funktion einer "Geheimsprache" haben. Nach Rosenberg sollten deutsche Beamte lieber die lokalen Sprachen der besetzten Länder lernen als umgekehrt. Die sprachliche Vermischung der Völker sollte grundsätzlich vermieden werden; es galt, sie untereinander auch sprachlich abzukapseln.
Antipova hat auch die praktische Umsetzung der Richtlinien am weißrussischen Beispiel analysiert - unter dem Generalkommissar Wilhelm Kube (Kap. V), unter seinem Nachfolger Curt von Gottberg (Kap. VI) und in militärverwalteten Gebieten (Kap. VII) - und dabei herausgearbeitet, dass der tatsächliche Gebrauch der Sprachen mehr den Kriegsrealitäten und weniger den Fantasien Rosenbergs oder der weißrussischen Nationalisten entsprach. Aus kriegsbedingten Notwendigkeiten wurde in den besetzten Ostgebieten relativ früh der Deutschunterricht eingeführt; unter der Militärverwaltung im Osten Weißrusslands lief die praktische Sprachpolitik sogar den Richtlinien der Zivilverwaltung entgegen. Dort war die Hauptumgangssprache nicht nur der Verwaltung, sondern auch der deutschen Propaganda Russisch und nicht Weißrussisch. Im westlichen - ehemals polnischen - Teil des Landes wurde hingegen hauptsächlich Polnisch gesprochen und sogar in den Schulen unterrichtet.
Das Schulwesen, das die Autorin vor allem im GW genauer unter die Lupe nimmt, wurde ebenso von den Kriegsrealitäten eingeholt. Entgegen der von Hitler und Himmler propagierten Niederhaltung des Bildungsniveaus der Ostvölker und der ursprünglich vorgesehenen vierjährigen Volksschulen wurden das Angebot dort, aber auch im RKU und im Herrschaftsbereich der Heeresgruppe Mitte, im Jahr 1943 um berufsbezogene Mittel- und Fachschulen erweitert. Die Berufsausbildung der Jugendlichen sollte sogar gefördert werden, um möglichst frühzeitig viele Arbeitskräfte für den Kriegseinsatz zu gewinnen. Das Erlernen der deutschen Sprache wurde dabei zu einer Notwendigkeit. Die Aufrechterhaltung des Schulbetriebs erwies sich jedoch auf Grund des Mangels an elementaren Lernmitteln und Schulgebäuden als äußerst schwierig und zum Ende des Krieges hin als beinahe unmöglich.
Der Erkenntnisgewinn des Buches geht über die NS-Sprachpolitik hinaus. Die Autorin bindet nämlich erfreulicherweise die Perspektive und die Reaktion der weißrussischen Nationalisten auf die sprachpolitischen Maßnahmen der Besatzer in ihre Darstellung ein. Sie analysiert die Texte aus dem Lager der Nationalisten auf Sprache und orthographische Merkmale. Dadurch gewinnt man nicht nur den Eindruck vom sozialen Milieu der weißrussischen Kollaborateure, die zumindest auf der Leitungsebene die Erfahrung der bolschewistischen Repressionen und ein hohes Bildungsniveau verbanden. Deutlich wird dabei auch, dass nicht nur die zeitweilige Umstellung auf Lateinschrift, sondern auch die unterschiedliche Rechtschreibung (taraškevica, narkamaǔka und die "weißruthenische Rechtsschreibung" Anton Lȅsiks vom 1943) die praktische Durchsetzung des Weißrussischen im Land (aber auch in historischer Perspektive) behinderten.
Das Durcheinander an Sprachen und Schreibweisen hat sich in den Quellen niedergeschlagen, die sowohl auf Deutsch, als auch auf Russisch und Weißrussisch, weniger in Lateinschrift und in unterschiedlicher Rechtschreibung vorliegen (das betrifft nicht nur amtliche Quellen und Propagandablätter, sondern auch Zuschriften aus dem Volk, die in diversen Beständen der belarussischen Archive zu finden sind). Einen guten Eindruck davon vermitteln einige Quellen im Anhang des Buches. Was die weißrussische Sprache angeht, so ist deren Akzeptanz in der Bevölkerung bis heute sehr niedrig. Dies lässt sich natürlich mit der historischen Entwicklung des Landes, der Russifizierungspolitik (vor allem der Nachkriegszeit) und der politischen und kulturellen Nähe zu Russland erklären. Für tieferes Verständnis sei aber Antipovas sehr detaillierte Beschäftigung mit der Entwicklung der weißrussischen Sprache unter deutscher Besatzung empfohlen.
Anmerkungen:
[1] Auszug in Alfred Rosenberg: Die Tagebücher von 1934 bis 1944. Herausgegeben und kommentiert von Jürgen Matthäus und Frank Bajohr, Frankfurt/M. 2015, 574-578, hier 576.
[2] Vgl. Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999; Bernhard Chiari: Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941-1944, Düsseldorf 1998.
Yuliya von Saal