Justus Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck. Strafgefangene und Bausoldaten in der Industrie der DDR, Berlin: Ch. Links Verlag 2012, 222 S., 33 s/w-Abb., ISBN 978-3-86153-675-8, EUR 24,90
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Justus Vesting beschäftigt sich in seinem Buch mit zwei derzeit in der wissenschaftlichen Diskussion stehenden Themen: der Arbeit der Strafgefangenen in der DDR und der Tätigkeit der "waffenlosen" Bausoldaten der Nationalen Volksarmee (NVA). Als Klammer für seine Untersuchung, die wesentlich auf einschlägigen Archivrecherchen und Zeitzeugeninterviews beruht, wählte der Autor den zwangsweisen Einsatz beider Gruppen im sogenannten Chemiedreieck der DDR. Dieses Dreieck, gebildet aus den Standorten der großen Chemiekombinate Leuna, Buna und Wolfen-Bitterfeld, war das bedeutendste ostdeutsche Industrieballungsgebiet. Dort wurden wichtige Grundstoffe, aber auch Konsumgüter produziert. Die Kombinate waren daher von strategischer Bedeutung für die Entwicklung der gesamten Volkswirtschaft im SED-Staat. Noch heute prägt das Chemiedreieck die Industrielandschaft im Süden Sachsen-Anhalts.
Der Anspruch des Autors ist durchaus ambitioniert, sollen doch "Arbeitsverhältnisse in der DDR, die auf Zwang und Diskriminierung basierten, am Beispiel der mitteldeutschen Chemieindustrie" analysiert werden, also "die Formen und Strukturen der Produktionsarbeit, die theoretische Begründung und praktische Durchsetzung des Zwangs, die Ausmaße der Diskriminierung und die Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen der 'Zwangsarbeiter'"(10). Die Begriffe "Zwangsarbeit" und "Zwangsarbeiter" erhalten bei Vesting eine "erweiterte Definition" (10), die über den bekannten juristischen Aspekt des Zwangs zur Arbeit hinausgeht. So sind für ihn Diskriminierung sowie die Inkaufnahme von "menschlich-gesundheitlichen Verschleißerscheinungen" (14) weitere wichtige Definitionskriterien. Seiner Ansicht nach trafen in der DDR diese Kriterien in ihrer Gesamtheit nur auf die (politischen) Strafgefangenen und die Bausoldaten zu. Über diese Schlussfolgerung sollte freilich nochmals nachgedacht werden, wenn beispielsweise die Forschungen zum zwangsweisen Arbeitseinsatz der "gewöhnlichen" (waffentragenden) Soldaten der NVA in der DDR-Volkswirtschaft weiter fortgeschritten sind.
Eine kompakte und informative Darstellung der Entwicklung der chemischen Industrie in der Region zwischen Merseburg und Dessau leitet die Untersuchung ein. Im Mittelpunkt steht dabei die von der DDR-Führung vor allem in den 1970er und 1980er Jahren gezielt betriebene Vernachlässigung der chemischen Werke (Kombinate). Die Folgen dieser Entwicklung für das Chemiedreieck waren verheerend - die Produktionsanlagen verschlissen, die Arbeitsbedingungen verschlechterten sich und die Beschäftigungszahlen sanken drastisch. Es herrschten Arbeitskräftemangel und -fluktuation. Die Kombinate waren riesige "Giftküchen", von denen große Umweltbelastungen ausgingen. Vor diesem Hintergrund wurde die Infrastruktur der Zwangsarbeit im Chemiedreieck auf- und ausgebaut.
Der Autor zeichnet diese Entwicklungen in seinem ersten Hauptkapitel sachkundig nach. Die Strafvollzugseinrichtung Bitterfeld erreichte beispielsweise Anfang der 1980er Jahre ihre Höchstkapazität. Dort wurden zeitweise über 1200 Strafgefangene untergebracht, die "in der Kohle" und in verschiedenen Betrieben des Bitterfelder Chemiekombinats arbeiten mussten. Zu den wichtigen Befunden Vestings in diesem Kapitel gehört, dass der Anteil der politischen Häftlinge in Bitterfeld deutlich höher war als bisher angenommen. Der Autor macht zudem deutlich, dass der Nutzen der Bitterfelder Strafgefangenenarbeit für die Volkswirtschaft der DDR "nicht hoch genug eingeschätzt werden" (118) kann. Abgesehen von der finanziellen Wertschöpfung der Strafgefangenenarbeit spricht Vesting den Strafgefangenen für die untersuchten Chemiebetriebe eine lebens- und produktionsnotwendige Bedeutung zu. Sie füllten Lücken, "die selbst bei einem Arbeitskräfteüberschuss nur schwer für die Betriebe zu füllen gewesen wären" (119). Die vorgebliche »Erziehung durch Arbeit« der Strafgefangenen erwies sich rasch als Ausbeutung. Der Autor arbeitet heraus, dass auch extreme Gesundheitsgefährdungen am Arbeitsplatz durch die Verantwortlichen im Strafvollzug und in den Betrieben in Kauf genommen wurden. Zwei Todesfälle von Häftlingen durch Quecksilbervergiftung sind bekannt.
Im zweiten Hauptkapitel seiner Studie wendet sich Vesting der Arbeit der Bausoldaten ("Spatensoldaten") zu. Eine kurze einleitende Darstellung über die NVA als "größte ständig verfügbare Personalreserve der Staatsmacht" (Matthias Rogg) wäre aber hier hilfreich gewesen, um dem Leser zumindest einen allgemeinen Überblick über den Einsatz von Armeeangehörigen in der Volkswirtschaft der DDR zu geben. So erfährt der Leser nur - ohne eine weitere Einordung - , dass Angehörige eines Pionierbaubataillons aus Gotha ab Mitte 1976 in die Chemieregion verlegt wurden, um Bau-, Reparatur- und Abbrucharbeiten zu verrichten. 1986 kamen die ersten Bausoldaten nach Bitterfeld und Buna. Anfang 1989 waren immerhin knapp 3000 Armeeangehörige allein im Verantwortungsbereich des Ministeriums für Chemische Industrie eingesetzt, unter denen die in sogenannten Baueinheiten zusammengefassten "Spatensoldaten" eine gewisse Sonderstellung einnahmen.
Die Bausoldaten der NVA wurden wie die Strafgefangenen dort eingesetzt, wo sie gerade gebraucht wurden. Sie waren aber flexibler planbar, da sie keinen besonderen Sicherheitsauflagen unterlagen. Ab Mitte 1988 arbeiteten beispielsweise 140 Bausoldaten und 80 Pioniersoldaten im Schichteinsatz direkt in der Aluminiumproduktion des Chemiekombinats Bitterfeld. Damit waren schwere körperliche Arbeiten, schlechte hygienische Bedingungen und eine große Gesundheitsgefährdung verbunden. Ein Teil der Bausoldaten, die als Ausreiseantragsteller bekannt waren, wurde offenbar gezielt für diesen und andere gefährliche Einsätze einberufen. Vesting beschreibt zudem weitere Diskriminierungen, die speziell die "Spatensoldaten" betrafen. Es kam zu Beschwerden und vereinzelt zur zeitweisen Arbeitsverweigerung von Bausoldaten. Nicht zuletzt im Ergebnis ihrer Proteste erhielten die Bitterfelder Waffendienstverweigerer nun einige Privilegien. Dazu zählten die Gewährung eines zusätzlichen Urlaubstages im Monat sowie verschiedene finanzielle Zuschläge. Es verwundert daher nicht, dass ein Bitterfelder Bausoldat - trotz aller Arbeitsbelastungen - ungern an einen anderen Standort, beispielsweise nach Prora, versetzt werden wollte.
Abschließend widmet sich der Autor schließlich einem Vergleich der Strafgefangenen- und der Bausoldatenarbeit im Chemiedreieck. Er macht nochmals deutlich, wie Strafgefangene und Bausoldaten gleichermaßen unter der Diskriminierung durch den Staat und dessen Organe zu leiden hatten. Unterschiede zwischen beiden Gruppen zeigten sich seiner Meinung nach unter anderem bei den Möglichkeiten, sich gegen die Arbeitsbedingungen zu wehren.
Vesting ist es gelungen, verschiedene Forschungsperspektiven in kompakter Form zu integrieren. Seine Untersuchung leistet nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Strafvollzugs und der politischen Verfolgung in der DDR, sondern ergänzt auch die Forschungen zur ostdeutschen Wirtschafts- und Militärgeschichte.
Rüdiger Wenzke