Tobias Wunschik: Knastware für den Klassenfeind. Häftlingsarbeit in der DDR, der Ost-West-Handel und die Staatssicherheit (1970-1989) (= Analysen und Dokumente; Bd. 37), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 364 S., 31 Abb., 17 Tabellen, ISBN 978-3-525-35080-5, EUR 29,99
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"Gefangene zur Arbeit einzusetzen hatte in der DDR eine repressive, eine wirtschaftliche und eine erzieherische Funktion." (275) Mit dieser allgemeinen Grundaussage lässt Tobias Wunschik die Zusammenfassung seines Buches beginnen. Auf den folgenden Seiten dieses Schlusskapitels werden dem Leser dann allerdings nochmals einige eindrucksvolle Fakten und Erkenntnisse seiner Studie vor Augen geführt: So sollten laut Plan allein im Jahr 1987 die etwa 28000 Häftlingsarbeiter in der DDR eine Wirtschaftsleistung von über 12 Milliarden Mark erbringen. Besonders hoch war der Gefangenenanteil unter den Beschäftigten im Bergbau, in der Fahrzeug- und elektrotechnischen Industrie. Nicht wenige Betriebe, in denen Strafgefangene, darunter auch politische Häftlinge, zum Einsatz kamen, lieferten ihre Erzeugnisse, vor allem Rohstoffe und Halbfabrikate, an westliche Unternehmen. Zudem wurden Konsumgüter aus der DDR in den Westen exportiert. Die ostdeutsche Möbelindustrie verkaufte beispielsweise mehr als die Hälfte ihrer gesamten Produktion in den Westen. Die Löhne der Gefangenen gingen von den Betrieben an die Gefängnisverwaltungen. Den Häftlingen verblieben monatlich im Durchschnitt nur rund 60 Mark, oftmals weniger, für den persönlichen Bedarf.
Tobias Wunschik, ein ausgewiesener Kenner der Geschichte des DDR-Strafvollzugs, unternimmt mit dem vorliegenden Buch den Versuch, dem Leser einen Einblick in die diffizile Problematik des Geschäfts mit der "Knastware" zu geben. Für ihn ist dieses Geschäft Teil des innerdeutschen Handels, von dem sowohl Westkonzerne als auch SED-Firmen profitierten. Den zweiten Schwerpunkt seiner Untersuchung bilden die Häftlingsarbeiter, ihre Arbeitsbedingungen, die Dimensionen ihrer Ausbeutung sowie die "Absicherung" ihres Arbeitseinsatzes durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS).
Wunschik geht es in seiner Studie nicht nur darum, "aus den Archiven einige 'harte' Zahlen und Fakten zu ermitteln, die einen Überblick über den Arbeitseinsatz von Gefangenen in der DDR sowie den Westexport der entstandenen Erzeugnisse ermöglichen" (18). Darüber hinaus beteiligt er sich an der Debatte über die Definition der Zwangsarbeit in der DDR. Seiner Meinung nach hat der Begriff der Zwangsarbeit "eine Entkontextualisierung und Entgrenzung erfahren, obwohl er geschichtspolitisch in hohem Maße aufgeladen ist" (11), so dass er mit Blick auf den DDR-Strafvollzug stets von "erzwungener Arbeit" spricht. Dem Untertitel der Publikation folgend, setzt sich der Autor mit drei größeren, relativ eigenständigen, aber dennoch eng miteinander verbundenen Forschungskomplexen auseinander - mit der Häftlingsarbeit in der DDR, dem Ost-West-Handel und mit der Staatssicherheit. Der zeitliche Schwerpunkt der Untersuchung liegt in der Ära Honecker.
In den ersten beiden Kapiteln zum Arbeitseinsatz von Gefangenen und den Arbeitsbedingungen in den ostdeutschen Gefängnissen und Haftlagern baut Wunschik auf seine Forschungen zur Geschichte des Strafvollzugs im SED-Staat auf, die er mit neuem Quellenmaterial kräftig ergänzt. In den Betrieben wurden kriminelle und politische Strafgefangene zum Arbeitseinsatz herangezogen. Dabei gab es durchaus einige Unterschiede. So wurden die "Politischen" in der Regel innerhalb der Haftanstalten eingesetzt, von wichtigen Funktionen ferngehalten und mit besonders schweren oder gefährlichen Arbeiten bedacht. Welchen Stellenwert der Arbeitseinsatz von Häftlingen für die DDR-Volkswirtschaft insgesamt einnahm, machten Amnestien besonders deutlich. Wunschik zeigt, wie dadurch tausende Arbeitskräfte nahezu schlagartig in der Produktion ausfielen und so die betroffenen Betriebe an den Rand eines Kollapses gerieten. Als "Lückenbüßer" kamen zeitweise verstärkt Kräfte aus der NVA und den kasernierten Einheiten der Volkspolizei in der Volkswirtschaft zum Einsatz.
Der zweite Schwerpunkt des Bandes ist trotz vieler Zahlen keineswegs eine trockene wirtschaftshistorische Abhandlung. Wunschik geht hier exemplarisch der Frage nach, "inwieweit bei dem Export von DDR-Produkten die erzwungene Arbeit von (politischen) Häftlingen eine Rolle gespielt haben könnte" (130). Sehr ausführlich schildert er die durchaus spannend zu lesende Rivalität zwischen dem IKEA-Konzern und dem fränkischen Möbelfabrikanten Richard Karl Lämmerzahl, die beim Import von Möbeln aus der DDR in Konkurrenz zueinander standen. Beide verfügten über sehr gute Kontakte zum ostdeutschen Außenhandel sowie zu DDR-Möbelfabriken. 1987/88 exportierte die DDR Möbel im Wert von etwa 260 Millionen Valutamark in die Bundesrepublik. Wunschik kommt bei seiner Recherche für die Möbelindustrie zu dem Ergebnis, dass "vermutlich" auch politische Gefangene an der Herstellung von Produkten für IKEA direkt oder indirekt beteiligt waren. Häftlingsarbeit für den Westexport weist er ebenso bei der Zementproduktion in Rüdersdorf, von der zeitweilig ein Teil direkt nach West-Berlin geliefert wurde, sowie in anderen Industriezweigen und -betrieben nach. "Auch drei große Kaliwerke waren fest in den Westexport eingespannt und beschäftigten bis zu einem Viertel Häftlingsarbeiter. Das Chemiekombinat Bitterfeld etwa verhandelte mit der Firma Hoechst über die Lieferung von Chlor - und setzte über 400 Häftlinge unter zum Teil lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen ein." (282)
Für das MfS schien die Absicherung jener Betriebe besonders wichtig, in denen Häftlinge an der Herstellung von Exportware beteiligt waren. So sollten u.a. "Manipulationen" im Produktionsprozess aufgedeckt und die Geheimhaltung gewahrt werden. Dennoch konnte das MfS nicht verhindern, dass beispielsweise mit der von Häftlingsarbeiterinnen des Frauengefängnisses Hoheneck produzierten Bettwäsche auch Zettel mit "Grüßen aus dem Ost-Knast an den Westen" zum "Klassenfeind" gelangten. Aussagen von freigekauften Häftlingen und Informationen von Häftlingsorganisationen trugen zudem dazu bei, dass bereits vor 1989 der westlichen Öffentlichkeit bekannt war, dass zumindest für IKEA und das Versandhaus Quelle Produkte auch in DDR-Gefängnissen hergestellt wurden.
Insofern ist die Thematik des Buches keinesfalls so spektakulär, wie sie zuletzt 2012 von den Medien dargestellt wurde. Die vorsichtigen Wertungen des Autors sowie sein Hinweis, dass nur ein dreiviertel Jahr für Recherche und Analyse zur Verfügung standen, lassen ahnen, welche Schwierigkeiten die Quellenarbeit teilweise bereitete, und unter welchem Zeitdruck die Publikation entstand. Vor diesem Hintergrund besteht das Verdienst von Tobias Wunschik vor allem darin, in seinem Buch wichtigen Fragen des Westexports von Produkten der Häftlingsarbeit nachgegangen zu sein und zu deren Aufhellung beigetragen zu haben. Seine faktengestützten Ergebnisse bereichern die Forschungen zum Arbeitseinsatz von Strafgefangenen in der DDR und zu den deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen.
Rüdiger Wenzke