Arnold Bartetzky: Nation - Staat - Stadt. Architektur, Denkmalpflege und Geschichtskultur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert (= Visuelle Geschichtskultur; Bd. 9), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, 280 S., zahlreiche farbige Abb., ISBN 978-3-412-20819-6, EUR 39,90
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Arnold Bartetzky (Hg.): Geschichte bauen. Architektonische Rekonstruktion und Nationenbildung vom 19. Jahrhundert bis heute, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2017
Arnold Bartetzky vereint in diesem Band Ergebnisse seiner wissenschaftlichen und publizistischen Arbeit, die im Zeitraum zwischen 2001 und 2011 entstanden sind. Unter den Beiträgen sind Texte, die auf gehaltenen Vorträgen basieren und gemeinsam mit zwei weiteren Texten bisher unveröffentlicht sind, weiterhin für diese Publikation leicht veränderte Artikel, die er zuerst als reportageartige Essays für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung vor Ort recherchiert und verfasst hat, sowie Artikel aus Sammelbänden, die hier neu abgedruckt werden. Gemeinsam ist allen Beiträgen das Interesse des Autors für die Entwicklung in mittel- und osteuropäischen Ländern nach 1989, es bleibt gleichwohl darauf nicht beschränkt. Der architekturhistorische und denkmalpflegerische Blick Arnold Bartetzkys geht auch nach Kuba, Irland oder Jamaika. Der Band ist in drei Teile gegliedert, deren inhaltliche Schwerpunkte die Beiträge sinnvoll zusammenbinden.
Mit dem Erscheinen des Bandes innerhalb der Reihe "Visuelle Geschichtskultur" ist auch die grundsätzliche Fragestellung formuliert. "Konstruktion von Geschichtsbildern" (7) wird in zwei Themenbereichen besonders brisant: wenn es einerseits um die Erhaltung von baulichen Zeugen der sozialistischen Zeit, andererseits um die Rekonstruktion von verlorenen Bauten geht. Bartetzky verweist zu Recht auf eines der Motive, die den Rekonstruktionen der letzten Jahre zugrunde liegen: "der Wunsch nach nationaler Selbstbehauptung durch bauliche Vergegenwärtigung vermeintlicher Glanzperioden eigener Geschichte" (7). Dass die Rekonstruktionswünsche im Westen Deutschlands weniger von derartigen nationalen Ideen getragen werden, hat Gründe, die Bartetzky nicht benennt. Hier wurde spätestens seit den Brüchen der 68er-Bewegung der Diskurs über das Nationale reflexartig abgelehnt. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg galt der Wiederaufbau auch im Westen Deutschlands jedoch selbstverständlich als Dienst an der Nation. Dieser Ablehnungsmechanismus lässt Bartetzky z.B. auch im ersten Beitrag "Wiedergutmachung für historische Verluste" den Abriss des Großfürstlichen Palais in Vilnius 1799-1801 nach der russischen Besetzung des Landes lediglich als "gängige Praxis" dieser Zeit sehen und nicht als mögliche Vernichtung nationalstaatlicher Bestrebungen. Dabei ist das Beispiel der Marienburg, dem er später nachgeht, der Fall par excellence. Er ist im Zusammenhang mit dem erstarkenden Nationalgedanken zu verstehen, der hier ein bürgerlich-freiheitlicher ist; man muss freilich zwischen den verschiedenen Phasen der Annäherung, dem alten und dem jungen Gilly unterscheiden, der Entdeckung der Marienburg kurz vor 1800, dem Weiterbau nach dem Wiener Kongress und dessen restaurativen Tendenzen, den Entwicklungen in der zweiten Jahrhunderthälfte, wenn das Nationale ins National-Konservative und schließlich ins Nationalistische abdriftet.
Wenn Arnold Bartetzky angesichts der zahlreichen Wiederaufbauten, nicht nur der heutigen, nach einer "doktrinär gefestigten Denkmalpflege" (8) ruft, muss ihm entgegengehalten werden, dass Theorie und Praxis des Faches nicht schwerelos und abgehoben existieren. Geschichtlichkeit gilt auch für das Fach, das sich der Geschichte verschrieben hat: es muss in der Lage sein, die idealisierten Postulate ausreichend zu historisieren, sich an ihnen zu entzünden, statt sie schildartig vor sich herzutragen. Der Rückbau des Warschauer Palais Staszic, die Zerstörung der Mariensäule in Prag, der Wiederaufbau in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg - man braucht diese historischen Vorgänge nicht gutzuheißen, aber man soll sie als das sehen, was sie in ihrer Zeit tatsächlich auch waren und sie vielen heute schwer verständlich machen, als "kulturelle Notwehr einer in ihrem Bestand gefährdeten Nation" (27).
Eine unzureichende Historisierung betrifft den Blick auf "Historische Positionen der Denkmalpflege". Das Heidelberger Schloss ist kein unangefochten durch das Jahrhundert wirkendes Vorbild, sondern ein zeitgemäßes Einzelstück, die argumentierenden Architekten und Denkmalpfleger sind nicht prinzipientreu, sondern historismusmüde. Wenn sich Arnold Bartetzky u.a. auf Cornelius Gurlitt beruft, dann kann nicht nur dessen Austritt aus dem Meißner Dombauverein 1902 und seine Forcierung des Konservierungsgedankens gemeint sein, sondern es muss auch seine Haltung zum Dresdner Zwinger in den Zwanzigerjahren einbezogen werden. Es spielen in Rekonstruktionsdebatten nicht nur "starke massenpsychologische, emotionale und vor allem politische Gründe" (35) eine Rolle, sondern auch und vor allem: architekturhistorische und geistesgeschichtliche. Nach dem Ersten Weltkrieg war in Polen - wie auch bei Gurlitt und Ermisch in Dresden offensichtlich - "die Hemmschwelle gegenüber Rekonstruktionen und freier Nachahmung noch weiter gesunken" (48). Insbesondere Gurlitt hat seiner Enttäuschung über die ausgebliebenen Verheißungen der Moderne freien Lauf gelassen, mit der Nüchternheit und Kargheit des Neuen Bauens konnte er nichts anfangen. Man sehe sich auch die methodischen Brüche in den wissenschaftlichen Biografien zahlreicher Denkmalpfleger unserer Tage an. Es wäre zu einfach, ihren wechselnden theoretischen und praktischen Anschauungen einfach mangelnde Standhaftigkeit zu unterstellen.
Der Beitrag zur "Architektur der Stalinzeit in der DDR und in Polen" ist ein erhellender Beitrag zu den frühen Fünfzigerjahren, vor allem zur Frage des Klassizismus und zum Anteil der einheimischen Renaissance in Polen. In welchem Maß jedoch die sowjetische Architekturdoktrin in der DDR "zwangsimportiert" (59) oder nicht vielmehr auch reimportiert war, darüber streiten sich inzwischen die wissenschaftlichen Geister. Die Analyse der Sprache gegen Formalismus und Kosmopolitismus und ihre Verbindungen zur Lingua tertii imperii (Victor Klemperer) ist zweifellos richtig, sie hätte an dieser Stelle den Hinweis benötigt, dass sie durchaus kein ostdeutsches Phänomen war. Arnold Bartetzky liefert ein Beispiel später nach, Johannes Göderitz spricht 1957 noch immer von "Entartungserscheinungen" (89). Im Beitrag zum Wiederaufbau zerstörter Städte in beiden deutschen Staaten und in Polen betont Bartetzky zu Recht die Parallelen zwischen der Architektur der frühen DDR und den traditionalistischen Richtungen des Wiederaufbaus in der Bundesrepublik (94). Ärgerlich dagegen ist das pauschale Urteil über die geringe materielle Qualität der "nachgeholten Moderne" (Thomas Topfstedt) in der DDR nach 1955 und die apodiktische Weise, in der ihr, abgesehen von "einigen systemspezifischen Bauaufgaben" (94) jede Eigenart abgesprochen wird.
Der mit "Postsozialistische Stadt. Postkonfliktstadt" überschriebene dritte Teil des Bandes beleuchtet nicht nur das "Sperrige Erbe" im wiedervereinten Deutschland und das um sich greifende Phänomen der "gated communities" auch in europäischen Städten, sondern geht versöhnenden Funktionen von Architektur nach. So kann man den Aufbruch in Belfast lesen oder die denkmalpflegerisch höchst problematische Sanierung der kleinen georgischen Stadt Signagi.
Der sehr lesenswerte, streitbare Band kommt insgesamt gerade zur rechten Zeit. Die Versachlichung im Umgang mit der Nachkriegsarchitektur, zu der er beiträgt, steht nicht nur auf der Agenda, sondern zeigt sich in zahlreichen Tagungen und Publikationen.
Sigrid Brandt