Rezension über:

Heinz Schilling: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2012, 720 S., 51 Abb., 4 Karten, ISBN 978-3-406-63741-4, EUR 29,95
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Rezension von:
Christoph Strohm
Lehrstuhl für Reformationsgeschichte und Neuere Kirchengeschichte, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Strohm: Rezension von: Heinz Schilling: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 3 [15.03.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/03/21895.html


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Heinz Schilling: Martin Luther

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Der emeritierte Berliner Historiker Heinz Schilling hat im Vorfeld des 500. Reformationsjubiläums eine umfangreiche Luther-Biografie zum Druck gebracht. Angesichts der großen Zahl bereits vorliegender entsprechender Werke stellt sich die Frage, was sie Neues bietet bzw. welche besonderen Akzente sie setzt. Das Werk ist in drei Teile gegliedert. Nach einem ersten kürzeren über "Kindheit, Studium und erste Klosterjahre 1483-1511" (21-112) behandelt ein zweiter die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1511-1525 (113-350). Ein dritter Teil widmet sich unter der Überschrift "zwischen Prophetengewissheit und zeitlichem Scheitern" den Jahren 1525-1546 (351-611).

In der zentralen, vieldiskutierten Frage nach dem Zeitpunkt des Durchbruchs zur reformatorischen Erkenntnis orientiert sich Schilling an Luthers Selbstbezeichnung. Seit Ende 1517 unterschrieb Luther seine Briefe mit dem Wort "Eleutherios", der Befreite. Bald wurde daraus "Luther", da er sich zunehmend an ein des Griechischen nicht mächtiges, deutschsprachiges Publikum wandte. So wird der Reformator in der Biografie bis zu diesem Zeitpunkt immer mit seinem Familiennamen "Luder" benannt. Die entscheidenden Veränderungen erscheinen im Jahr 1518 vollzogen, ohne dass das Prozesshafte des Durchbruchs aus dem Blick gerät.

Bezeichnenderweise gipfelt der zweite Teil der Biografie jedoch nicht in der Vollendung des Durchbruchs zur Reformation, sondern 1525 in einem Abschnitt "Angekommen in der Welt - Ehe, Familie, Großhaushalt" (318-350). Darin findet Schillings Intention, die Weltbezogenheit und Weltwirkung des Reformators Luther ins Zentrum zu stellen, ihren Ausdruck. Die theologischen Grundentscheidungen werden knapp und durchweg verständlich beschrieben, das Hauptinteresse liegt jedoch bei den Weltwirkungen: Luther und Ehe, Familie, Politik, Wirtschaft, Toleranz, Bildung, Musik und - immer wieder! - Sprache. Hier gelingen dem Verfasser präzise, mitunter glänzende Darstellungen in Miniatur. Sie sind über das gesamte Werk verstreut und machen wohl den eigentlichen Wert dieser Biografie im Vergleich zu anderen, meist von Kirchenhistorikern verfassten Luther-Büchern aus.

Ein weiteres Charakteristikum der Biografie ist das durchgehende Bemühen um eine konsequente Kontextualisierung des Reformators. Schilling setzt mit Skizzen zur Lutherbegeisterung und -inszenierung der vergangenen Jahrhunderte ein und formuliert seinen Anspruch: "Es ist an der Zeit, diesen Gedenkkult zu durchbrechen und Martin Luther, sein Denken und Handeln wie dasjenige seiner Zeitgenossen als das darzustellen, was sie für den heutigen Menschen zuerst und vor allem sind, nämlich Zeugen 'einer Welt, die wir verloren haben'" (15). Ausdrücklich wird das Ziel, durch die Deutung Luthers "in und aus seiner Zeit heraus" eine "wissenschaftliche Basis für die gedenkpolitische Gestaltung des Reformationsjubiläums 2017" zu gewinnen, formuliert (639f.).

Von den ersten Seiten an sucht Schilling Luther in seiner Zeit zu verorten. Das bedeutet nicht nur, die sein Werk prägenden Faktoren, sondern auch die seinem reformatorischen Wirken parallel laufenden Entwicklungen herauszuarbeiten. So skizziert er die Modernisierung des Papsttums und die neue, Priestern und Laien gemeinsame Frömmigkeit der devotio moderna als Voraussetzung des Wirkens Luthers. Sie wird als "Vorstufe des wenig später von Luther postulierten Priestertums aller Gläubigen" beschrieben (32). "Ganz ähnlich verhielt es sich mit anderen tiefgreifenden Prozessen, aus denen die Historiker die Neuzeit erwachsen sehen und die sie in der Regel auf die Reformation zurückführen: Weder 'die innerweltliche Askese' noch die damit einhergehende, sogenannte protestantische Arbeitsethik (waren) 'neuartig', wie überhaupt entscheidende Weichenstellungen für Zivilisationsprozess und Sozialdisziplinierung schon in den Städten und kirchlichen Gemeinschaften des ausgehenden Mittelalters vorgenommen wurden" (32).

Das Bemühen um eine Kontextualisierung Luthers geht noch weiter. Im Sinne der maßgeblich von ihm begründeten sogenannten Konfessionalisierungsforschung betont Schilling die Gleichförmigkeit der Entwicklungen im Bereich der römisch-katholischen Konfessionskirche. Engagiert kämpft er gegen das Herausstellen des Reformators und seines Werkes auf Kosten seiner Gegner oder konkurrierender Modelle. So sei der Gründer des Jesuitenordens, Ignatius Loyola, "angesichts seiner weltgeschichtlichen Wirkung als dritter Reformator Luther und Calvin zur Seite [zu] stellen" (156). Der junge Kaiser Karl V., der dem 37-jährigen Luther 1521 in Worms gegenübertritt, ist bei Schilling keineswegs der Repräsentant einer untergehenden Welt oder eines religiösen Auslaufmodells (215-236). "Es war für beide ein entscheidender Moment. Jeder von ihnen stand am Anfang, jeder hatte die Vision einer universellen Aufgabe vor Augen. Beiden ging es um die Reform der Christianitas, was angesichts der alteuropäischen Verschränkung von Religion und Politik immer zugleich Veränderungen in Kirche und Gesellschaft bedeutete" (217). Verbunden ist solches Bemühen um Parallelisierung von Luthers Reformation und Entwicklungen, die zur römisch-katholischen Konfessionskirche führten, mit wiederkehrenden Abgrenzungen gegen die - allerdings auch andernorts längst revidierten - Verzeichnungen einer protestantisch dominierten Lutherforschung (158, 418, 441f., 613f.).

Gleichwohl gelangt Schilling an zahlreichen Stellen zu pointierten Würdigungen der in die Zukunft weisenden Wirkung der Reformation Luthers. Berufsbegriff, Priestertum aller Gläubigen, Bildungsanspruch, Unterscheidung von geistlichem und weltlichem Regiment oder auch die Neuentdeckung der Religion als weltgestaltender Kraft werden herausgestellt. Schilling scheut nicht zugespitzte Formulierungen: Das Weltliche wurde "zu einem Teil der Heilsordnung. Ehe, Sexualität, Beruf, Politik wurden aufgewertet und erhielten eine neue Legitimität. Das setzte im privaten wie im öffentlichen Leben eine Dynamik frei, die unter der Herrschaft der mittelalterlichen Leistungsfrömmigkeit der Welt entzogen gewesen war" (635). Die herausgestellten parallelen Entwicklungen im katholischen Bereich erscheinen vielfach als Reaktion oder durch die Konkurrenzsituation bedingt. Über allem steht die Mahnung, dass die von Luther in die Moderne weisenden Wirkungen nur indirekt und meist nicht intendiert gewesen seien (634).

Das Werk ist sehr gut lesbar geschrieben. Dem Historiker gelingt es, theologische Sachverhalte in allgemeinverständlicher Sprache darzulegen. So wird z.B. Luthers Anliegen im Abendmahlsstreit mit dem Züricher Reformator Huldrych Zwingli als Beharren auf dem "sakralen Kern der Abendmahlsfeier" beschrieben (400). Scheinbar beiläufig vermag der Biograf die Differenzen des Zürichers mit Luther geschickt zu illustrieren, indem er die Verhandlungen in dieser Sache auf dem Marburger Religionsgespräch im Oktober 1529 mit ein paar wenigen Pinselstrichen skizziert. "Zwingli hielt sich zunächst im Hintergrund und wirkte mit seinem Schweizer Waffenrock nebst Degen im Kreis der anderen geistlichen oder akademischen Habit tragenden Theologen fast befremdlich" (402). Man versteht durch solche illustrative Einbeziehung von Kontexten besser, warum der gerade erst der mönchischen Existenz entwachsene Luther solche Schwierigkeiten hatte, zu einem Konsens mit Zwingli zu finden. Schilling erzählt mitunter mit feinem Humor und sanfter Ironie, die nie selbstgefällig wirkt, sondern dazu dient, die Vielschichtigkeit der Persönlichkeit Luthers lebendig werden zu lassen. Manches Mal verhehlt er nicht die Abscheu vor der Grobheit des Reformators, ebenso wenig aber auch die Freude an seiner Sprachkraft und menschlichen Präsenz.

Christoph Strohm