Josep Termes: Història del moviment anarquista a Espanya (1870-1980), Barcelona: L'AVENÇ 2011, 693 S., ISBN 978-84-88839-53-4, EUR 35,00
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Die hegemoniale Rolle des Anarchismus über viele Jahrzehnte hinweg ist zweifellos die differentia specifica der spanischen Sozialgeschichte. Kein anderes Land, weder in Südeuropa noch in Lateinamerika, kannte eine vergleichbare Dominanz im linken Spektrum. Zahlreiche Analysen und Theorien haben sich mit den Ursachen dafür beschäftigt. Ältere Interpretationen sahen im Anarchismus noch eine "vormoderne", agrarisch geprägte Strömung und zogen Parallelen zu millenaristischen Bewegungen des Mittelalters. [1] Mittlerweile hat sich im Rahmen der modernen Sozialgeschichtschreibung eine umfangreiche Forschungsliteratur entwickelt, die den spanischen Anarchismus in seiner ganzen Komplexität, in Beziehung zu den spezifischen ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen, untersucht. Nachdem sich zudem mit dem Ende der Franco-Diktatur der Schwerpunkt der Forschungen nach Spanien verschoben hatte, was Hand in Hand mit einer breiten Öffnung oder Zurückführung von Archiven ging, ist der heutige Stand kaum noch überschaubar, wie eine jüngere Bibliografie zeigt. [2] Anlässlich des hundertsten Jahrestags der Gründung der wohl bedeutendsten Organisation des spanischen Anarchismus, der Gewerkschaft CNT (Confederación Nacional del Trabajo - "Nationaler Bund der Arbeit"), wurden 2010 wichtige Überblicksdarstellungen veröffentlicht. [3]
Noch wesentlich ambitionierter ist das von Josep Termes im Juni 2011, vier Monate vor seinem Tod, vorgelegte opus magnum. Sicherlich war kaum jemand berufener für eine solche Gesamtdarstellung. Seit seiner Doktorarbeit über die Formierungsphase des spanischen Anarchismus zur Zeit der I. Internationale widmete er sich schwerpunktmäßig der Arbeiterbewegung und den Volksbewegungen Kataloniens. Wie viele andere bedeutende Neuzeithistoriker Kataloniens seiner Generation war auch er ein Schüler von Jaume Vicens Vives, der wesentlich dazu beitrug, den Anschluss an die moderne Geschichtswissenschaft in Europa, insbesondere die Annales-Schule, zu finden, was nicht zuletzt zur Wiederentdeckung der verdrängten Geschichte der sozialen Bewegungen führte.
Gleich zu Beginn weist Termes jede "agrarische" Interpretation zurück. Seit der Initialzündung im Gefolge der Reise eines Abgesandten Michail Bakunins 1868 lebte die Mehrheit der Anarchisten immer in Katalonien, dem industrialisiertesten Teil Spaniens. Die Basis lag in der Gewerkschaftsbewegung, wobei die Immigration aus den agrarischen (und zugleich nicht katalanisch-sprechenden) Gebieten keineswegs eine so bedeutende Rolle spielte. Rückschläge führten immer wieder zur Hinwendung zu Konspiration und nicht zuletzt zu terroristischen Methoden, begleitet von heftigen inneren Kämpfen zwischen verschiedenen ideologischen Schulen. Dazu kam die Verfolgung durch den Staat.
Die organisatorische Entwicklung vollzog sich in einem Dualismus: Der Gewerkschaft standen die anarchistischen "Affinitätsgruppen" gegenüber, nach spezifischen Doktrinen, nach persönlichen Beziehungen oder auch nach lebensweltlichen Einstellungen gebildet und auf die Bewahrung der Prinzipien achtend. Dies wurde besonders deutlich in der Zeit der größten Ausdehnung des spanischen Anarchismus mit der Bildung des landesweiten Gewerkschaftsbundes CNT 1910, während sich die anarchistischen Gruppen 1927 zur FAI (Federación Anarquista Ibérica - "Iberische Anarchistische Föderation") zusammenschlossen. Dieser Dualismus war es, der nach Ausbruch des Bürgerkrieges im Juli 1936 für den "kurzen Sommer der Anarchie" (Hans Magnus Enzensberger) in Katalonien stand, unzählige Male in den Reportagen vom Bürgerkrieg beschrieben wurde und dessen Bild ganz wesentlich prägte.
Doch die Anarchisten entschieden sich für das Bündnis der Volksfront unter der Parole des Antifaschismus und mussten erleben, wie ihr Einfluss systematisch zurückgedrängt wurde. Vor allem Stalin wollte aus strategischen und politischen Gründen keine Revolution in Spanien und saß wegen der sowjetischen Waffenlieferungen am längeren Hebel. Doch trotz der Niederlage der Republik und der Flucht vieler CNT-Mitglieder ins Exil war damit noch nicht ihr Untergang besiegelt, wie Termes klar macht. Dieser Untergang beruhte vielmehr auf einer Kombination von blutiger Verfolgung in den Vierzigerjahren, auf Spaltungen im Exil mit Auswirkungen auf den innerspanischen Widerstand und vor allem auf der jahrzehntelangen Behauptung der Diktatur bis in die Siebzigerjahre bei gleichzeitigen sozialen und ökonomischen Umwälzungen. Die CNT verpasste den Anschluss an eine neue Generation und kam auch nach dem Tod Francisco Francos 1975 über eine marginale Strömung, die heute mit den "alternativen Milieus" im übrigen Europa vergleichbar ist, nicht hinaus.
Termes zeichnet diese Geschichte in fast schon epischer Breite nach. Das Augenmerk liegt auf den "Strategien und dem konkreten Handeln" (19) in Verbindung mit der organisatorischen Entwicklung (einschließlich der umfangreichen publizistischen Aktivitäten). Den vielfältigen theoretischen Entwürfen gewinnt er dagegen nicht sehr viel ab. Seine Darstellung ist fast vollständig auf Katalonien konzentriert. Doch etwas mehr als die wenigen Bemerkungen insbesondere zu Andalusien wären vielleicht sinnvoll gewesen, um den gesamtspanischen Charakter insbesondere der CNT deutlich zu machen - dies erst recht aufgrund der heute vorliegenden vielfältigen Regionalstudien. Kritisch anzumerken ist, dass seine Darstellung eine sehr "männliche" Geschichte ist. Die Geschlechterfrage taucht allenfalls sporadisch auf. Selbst die anarchistische Frauenorganisation während des Bürgerkriegs (Mujeres libres - "Freie Frauen") ist ihm keine besondere Darstellung wert.
Das Buch baut erkennbar auf den umfangreichen Forschungen des Autors und auf der Auswertung der breitgefächerten Sekundärliteratur auf. Es richtet sich aber an einen breiteren Leserkreis, sodass ein Anmerkungsapparat fehlt. Auf wichtige Werke wird allerdings immer wieder im Text verwiesen, und ein bibliografischer Anhang erläutert zumindest die Veröffentlichungen im Exil (v.a. Memoiren und Schriften im Zusammenhang mit den inneranarchistischen Auseinandersetzungen). Ärgerlich ist dann aber, dass Zitate nicht mit genauen Angaben versehen sind. Nicht einmal die Quelle lässt sich immer erschließen. Vor allem aber vermisst man schmerzlich eine Gesamtbibliografie und - noch ärgerlicher - ein Namensregister. Überhaupt hat man den Eindruck, dass die letzten Kapitel (mit Redundanzen und Sprüngen in der Darstellung) unter einem gewissen Zeitdruck fertig gestellt wurden.
Doch insgesamt handelt es sich um eine breit angelegte, leicht zugängliche Darstellung, welche einen umfassenden Überblick über die Geschichte des spanischen Anarchismus vermittelt. Dabei ist Termes keineswegs unkritisch. Er lässt die Schattenseiten, etwa die terroristischen Aktionen, nicht aus. Termes' Sympathien gelten deutlich den allerdings immer wieder gescheiterten Bemühungen, die gewerkschaftlich ausgerichtete Strömung mit der katalanistischen Linken zusammenzuführen. Letztlich aber war die Niederlage der Republik keineswegs allein oder hauptsächlich auf das Verhalten der CNT zurückzuführen, sondern sie war ein Ausdruck der Schwäche der gesamten spanischen Linken.
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu Martha Grace Duncan: Spanish Anarchism Refracted. Theme and Image in the Millenarian and Revisionist Literature, in: Journal of Contemporary History (Juli 1988), 323-346.
[2] Salvador Gurucharri: Bibliografía del anarquismo español 1869-1975, Barcelona 2004. Einen kommentierten Überblick über den neuesten Forschungsstand gibt Oscar Freán Hernández: El anarquismo español. Luces y sombras en la historiografía reciente sobre el movimiento libertario, in: Ayer 84 (2011), 209-223.
[3] Julián Casanova: Tierra y libertad: cien años de anarquismo en España, Barcelona 2010; Dolors Marín: Anarquistas: un siglo de movimiento libertario en España, Barcelona 2010.
Reiner Tosstorff