Rezension über:

Irene Dingel (Hg.): Der Adiaphoristische Streit (1548-1560) (= Controversia et Confessio. Theologische Kontroversen 1548-1577/80. Kritische Auswahledition; Bd. 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, X + 1013 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-56010-5, EUR 150,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Christian Volkmar Witt
Fachbereich A (Ev. Theologie), Bergische Universität Wuppertal
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker / Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Christian Volkmar Witt: Rezension von: Irene Dingel (Hg.): Der Adiaphoristische Streit (1548-1560), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 4 [15.04.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/04/21433.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Irene Dingel (Hg.): Der Adiaphoristische Streit (1548-1560)

Textgröße: A A A

Was gehört eigentlich zum unverzichtbaren Kernbestand einer theologisch reflektierten religiösen Haltung und was nicht? Sind religiöse Einstellungen überhaupt kompromissfähig? Und wenn ja, warum und unter welchen Bedingungen? So aktuell diese für den interkonfessionellen und interreligiösen Dialog zentralen Fragen auch anmuten mögen, sie sind in der Christentumsgeschichte schon häufig diskutiert worden. Der Erschließung der historischen Dimension derartiger Fragekomplexe kommt der hier vorzustellende zweite Band der Reihe Controversia et Confessio zugute, der sich mit dem so genannten Adiaphoristischen Streit in der Zeit von 1548 bis 1560 befasst.

Der von Irene Dingel herausgegebene und mit einer seinen Wert unterstreichenden historischen Einleitung (3-14) versehene, von Jan Martin Lies und Hans Otto Schneider bearbeitete Quellenband bietet eine Edition elf ausgewählter Dokumente (16-972), anhand derer sich der Adiaphoristische Streit exemplarisch - das sei vorweggenommen - vorzüglich nachvollziehen lässt. Alle Quellen sind ihrerseits mit einer Einleitung versehen, anhand derer sich für das Verständnis der gesamten Kontroverse wie der einzelnen Dokumente kostbare Informationen zum historischen Kontext, zu den jeweiligen Autoren und Herausgebern, zum Inhalt sowie zu den einzelnen Ausgaben gewinnen lassen. Schriften, die in lateinischer und deutscher Sprache abgefasst wurden, werden in beiden Versionen parallel abgedruckt. Abgerundet wird die Quellensammlung durch einen Anhang (973-1013), der neben einem reichhaltigen Literaturverzeichnis, einem Personen-, Bibelstellen- und Ortsregister auch ein die Erschließung der Debatte erleichterndes Zitatenregister enthält.

Zunächst seien einige Worte zur historisch-inhaltlichen Orientierung vorangestellt: "Es waren [...] drei ineinander greifende Problematiken, die den 'Adiaphoristischen Streit' [...] bestimmten: zum einen die Frage des mutigen Bekennens und eindeutigen Bekenntnisses in einer Bedrohungs- und Krisensituation; zum anderen die Frage der Notwendigkeit einer Übereinstimmung von Lehre und Bekenntnis einerseits mit Kirchenverfassung bzw. kirchlichem Kultus andererseits sowie der Freiheit des Umgangs mit den Riten und Zeremonien (gemäß CA 15); zum dritten die Frage der obrigkeitlichen Kompetenz und der obrigkeitlichen Rechte in geistlichen oder kirchlichen Angelegenheiten." (4). Der Wert der historischen Einleitung der Edition erschöpft sich aber nicht nur in derartigen Bündelungen, sondern ergibt sich auch aus einer Bereicherung des Forschungsstandes: So müsse im Rahmen der sich im Anschluss an das Augsburger Interim von 1548 entwickelnden Streitigkeiten differenziert werden zwischen Dokumenten, die der Abwehr oder Verteidigung des Interims gewidmet sind und darum dem "Interimistischen Streit" (s. dazu Bd. 1 der Reihe: [1]!) zugeordnet werden müssen, und Schriften, die sich mit der Frage der Adiaphora, der "freien Mitteldinge", befassen und so in den "Adiaphoristischen Streit" hinein gehören (3). Die genannten Bezeichnungen der Streitigkeiten sollten demnach also keineswegs deckungsgleich gebraucht werden, was in der einschlägigen Forschungsliteratur jedoch nicht selten getan wurde. Sie dienen stattdessen der Identifizierung eigenständiger, wenn auch genetisch zusammenhängender Kontroversen.

So wurde der Adiaphoristische Streit ausgelöst durch einen auf das Augsburger Interim reagierenden, unter der Federführung Melanchthons entstandenen Kompromissvorschlag, der durch Wiedereinführung ausgewählter, nach Einschätzung seiner Urheber für das Heil der Menschen vor Gott nicht notwendiger Riten das Interim entschärfen und dessen Auswirkung auf die protestantischen Territorien abschwächen sollte (7f.). "Explosiv wurde die Frage der Wiedereinführung altgläubiger Zeremonien in dem Moment, in dem sie als 'freigelassene Mitteldinge' neben die evangelische Rechtfertigungslehre rücken sollten" (7).

Es sei an dieser Stelle eine Kostprobe aus den edierten Dokumenten geboten: Die Gegenwehr gegen die von Melanchthon und seinen Wittenberger Mitstreitern verfochtene Lehre von den Adiaphora ist untrennbar verbunden mit dem Namen Matthias Flacius Illyricus. In seinem Selbstverständnis als Verteidiger der reinen Lehre Luthers bekämpft er im Verbund mit anderen theologisch gebildeten Köpfen die Wittenberger Vorstöße. Doch das bedeutet freilich nicht, dass Flacius grundsätzlich keine Adiaphora zuließ, wie seine Schrift "Von wahren und falschen Mitteldingen" von 1550 ausweist (112-353). In der Kirche gebe es durchaus Mitteldinge, die sich dadurch auszeichnen, dass sie weder durch ein göttliches Gebot zur Pflicht gemacht noch durch ein entsprechendes Verbot untersagt werden; dazu gehören im Kontext von Gottesdienst und Frömmigkeit öffentliche Bräuche wie Lieder, Gesänge und Kleidung oder private wie Gebets- und Fastenzeiten. Derartige Adiaphora seien durchaus auf göttliche Willenssetzungen zurückzuführen, denn "Gott will, das alles ördentlich vnd wies zur erbawung der Gottfürchtigen vnd ehr Gottes am aller bequemlichsten ist, zugehe." (217; zur positiven Einschätzung der Adiaphora s. 213-239) Neben diesen wahren gebe es aber auch falsche Mitteldinge, "die jtzt der kirche Christi von den Gotlosen auffgedrungen werden" (239). Diese seien entweder nicht von Gott eingesetzt oder trügen zur Erbauung der Gläubigen und zur gottgefälligen Ordnung des christlichen Lebens nichts aus (239-295). Durch sie werde somit "Christus selbs vielfeltiglich [...] geschendet vnd gelestert" (295) - und genau das ist nach Meinung des Flacius bei den Vorschlägen der Wittenberger Theologen um Melanchthon der Fall.

Es ist deutlich: Derartige Quellen sorgen einmal für ein differenziertes Bild der Debatte als solcher. Pauschale Zuordnungen, wie Melanchthon für, Flacius gegen die Lehre von den Adiaphora, bilden den Frontverlauf nicht angemessen ab. Vielmehr ging es um die Fragen, was eigentlich genau freie Mitteldinge sind, wie man sie theologisch begründet und inwiefern sie gleichsam als praktische Ausformungen theoretisch reflektierten Glaubens zu stehen kommen. Sodann stößt man bei sensibler Lektüre auf Gedankenkonstellationen, die einem die historische Tragweite des Adiaphoristischen Streits klar werden lassen: Noch bis ins 18. Jahrhundert hinein sollten beispielsweise Lutheraner und Reformierte, welche sich auf dem Boden des Reiches nicht zuletzt als Erben Melanchthons verstanden, darüber streiten, was an christlich-reformatorischen Lehrbeständen eigentlich als fundamental, also für das Heil der Seelen unverzichtbar angesehen werden muss und was nicht. Schließlich treibt die Frage nach den Adiaphora die Frage nach den Fundamentalartikeln aus sich heraus - eine Frage, die auch im Rahmen innerprotestantischer Einigungsversuche eine schwerlich zu überschätzende Rolle spielen sollte.

Es ist das Verdienst des vorliegenden Bandes und der Reihe, in die er gehört, insgesamt, dass sie dem interessierten Leser Dokumente theologischer Kontroversen zugänglich machen, die gleichsam an einer Scharnierstelle der frühneuzeitlichen Kirchengeschichte zu stehen kommen, nämlich zwischen der Zeit der ersten Generation der Reformatoren und der Epoche der inner- und interkonfessionellen Auseinandersetzungen der sich bildenden Konfessionskirchentümer. Nebenbei bemerkt: Dass auf den ersten Blick rein theologische Kontroversen wie der Adiaphoristische Streit u. a. auch politikgeschichtlich aufschlussreich sind, in diesem Fall mit Blick auf die Rivalität zwischen dem ernestinischen und dem albertinischen Sachsen, macht solche Quellenbände wie den vorliegenden nicht nur für Kirchenhistoriker interessant.


Anmerkung:

[1] Irene Dingel (Hg.): Reaktionen auf das Augsburger Interim. Der Interimistische Streit (1548-1549), Göttingen 2010 (Controversia et confessio, Bd. 1) sowie Axel Gotthard: Rezension von: Irene Dingel (Hg.): Reaktionen auf das Augsburger Interim. Der Interimistische Streit (1548-1549), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 12 [15.12.2010], URL: http://www.sehepunkte.de/2010/12/18686.html.

Christian Volkmar Witt