André Dombrowski: Cézanne, Murder, and Modern Life (= The Phillips book prize series; 3), Oakland: University of California Press 2013, 309 S., ISBN 978-0-520-27339-9, USD 60,00
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Kaum irgendein künstlerisches Spätwerk unterscheidet sich so radikal vom Frühwerk wie dasjenige Paul Cézannes. Abgeklärte Sublimierung und ästhetische Vollendung dort, konvulsivische Expressivität hier. So die Standarderzählung. Auch wenn der Autor der vorliegenden Studie im ausführlichen Epilog die Verkürzungen dieser Sichtweise zu korrigieren bestrebt ist, widerspricht er ihr nicht vollständig. Gegenstand seines etwas reißerisch betitelten und darin die Breite seiner Analysen eher verhüllenden Buches ist das Frühwerk des Franzosen, das neben dem in der geläufigen Sichtweise die Moderne recht eigentlich begründenden Spätwerk ansonsten eher im Schatten des Interesses steht.
Einen roten Faden in der überaus komplexen Diskussion kann man in Cézannes Verhältnis zu Manet identifizieren, ja, der Jüngere scheint sich an dessen Vorgaben regelrecht abzuarbeiten. Gegenüber den extremen ästhetischen Verfeinerungen des blasierten Städters, seinen dandyhaften Distanzierungen und antinarrativen Stillstellungen reagiert Cézanne merkwürdig ambivalent: Zurück zur Erzählung einerseits, voraus zu einem emotional aufgewühlten Expressionismus andererseits. Avantgarde also weniger im Gegensatz zum juste milieu der akademischen Malerei und dem, was Albert Boime den "official realism" genannt hat, als vielmehr zu einem Hauptvertreter der Avantgarde selbst. Den "Mord" von ca. 1868-70 kategorisiert Dombrowski unter "Violent Beginnings". Cézannes gewaltsamer Art, die Leinwand mit Farbe zu traktieren, entspricht hier das Thema, gedeutet als die andere Seite der Moderne, als Atavismus im nur scheinbar fortschrittlichen, bürgerlichen Staatswesen. Im Anschluss an seinen Freund Zola und zeitgenössische Physiologen evoziert Cézanne hier ein Individuum, das seinen körperlichen Instinkten folgt und nicht bewusst agiert. Gewalt als menschliche Urkraft, die im Prozess der Zivilisation nur unzulänglich zugedeckt wird und gleichzeitig in den spätromantischen Theorien der Zeit als künstlerisches Agens gefeiert wird (Baudelaire). Dabei gelingt es Dombrowski, in einer überaus gekonnten Verbindung von Ikonologie und Formanalyse die kulturgeschichtlichen Verweise an die Erscheinungsform des Bildes zurückzubinden.
Der in zwei Versionen aus den späten 1860er- und den mittleren 1870er-Jahren überlieferten "modernen Olympia" ist das zweite Kapitel gewidmet, den Werken, die schon im Titel auf Manet verweisen. Eleganter Distanzierung ist hier wüste Schaulust entgegengesetzt, der Maler selbst fügt sich in die Szene ein und decouvriert sich als Bordell besuchender Bürgerschreck. Cézanne sucht in rabelaischem Geist seinen bewunderten wie gehassten Vorgänger zu radikalisieren und damit dessen eigenen Gestus für sich selbst zu beanspruchen. Ziel ist die Wendung gegen Manet selbst wie gegen einen bürgerlich domestizierten Kunstbegriff. Die Bäuerlichkeit des Provençalen steht hier gegen verfeinerte Urbanität, provençalische Identität als kultureller Faktor gegenüber dem Paris-dominierten Second Empire hätte hier im Anschluss an die Forschungen Nina Athanassoglou-Kallmeyers eventuell noch stärker thematisiert werden können. [1]
Ebenfalls als Antwort auf Manet dürften die beiden in den späten 1860er-Jahren entstandenen Versionen von "Paul Alexis liest Emile Zola vor" zu verstehen sein, die im Mittelpunkt des dritten Kapitels stehen. Der abgeklärten, fast stilllebenhaften Existenz des Dichters in Manets berühmtem Porträt von 1868 ist hier die Intensität des künstlerischen Austausches entgegengesetzt. Wo Manet auch noch das Persönliche vergegenständlicht, sucht Cézanne das Gegenständliche zu subjektivieren, ja zu anthropomorphisieren, was immer wieder in dessen Innenräumen, dann vor allem in der "Schwarzen Uhr" von 1870 zu beobachten ist. Paul Alexis, so die These, steht hier auch für den Maler Cézanne selbst, der sich im Austausch mit dem Dichter inszeniert und ihn somit symbolisch zu sich herüberzuziehen sucht, ihn aus der Verbindung mit Manet lösen will. Dass dies letztlich scheiterte, ist bekannt.
In mancher Hinsicht ist die "Ouvertüre zum Tannhäuser", Gegenstand des vierten Kapitels, das eigentümlichste unter den frühen Bildern Cézannes. Von Wagnerschem Furor ist in der sittsamen Innenraumszene mit zwei Frauen wenig zu bemerken, gerade die Verlegung der Opernszene in den bürgerlichen Innenraum ist aber auch hier wesentlicher Bestandteil der Interpretation. Dabei wird nicht jede/r Leser/in bereit sein, die gewagte Deutung der Transposition nachzuvollziehen, welche auf gängige malerische Anlehnungen an die Erzählvorgaben der Oper verzichtet und den Stoff zu verinnerlichen scheint. Die christliche Elisabeth aus Wagners Tannhäuser nämlich sei in der Pianistin in Cézannes Bild gespiegelt, deren Gegenpart Venus aber nicht in der zweiten Figur (was angesichts ihrer Darstellung als strickende Frau wohl auch kaum möglich gewesen wäre), sondern in der konvulsivischen Anthropomorphisierung des Tapetenmusters. Es ist ganz unmöglich, die weitreichenden genderhistorischen Anmerkungen des Autors an dieser Stelle auch nur anzudeuten, wichtig aber scheint mir der Hinweis darauf, dass sich in dem Bild eine Form von "Triebreduktion" durchsetzt, die in flagrantem Gegensatz zu den meisten anderen Bildern des Frühwerks steht, gleichzeitig aber die abgeklärte Serenität der späten Landschaften und Figurenbilder zu präludieren scheint.
Kaum weniger gewagt dürfte die Deutung der drei von Dombrowski spät, auf die Zeit nach dem Deutsch-Französischen Krieg datierten malerischen Übernahmen aus zeitgenössischen Modeillustrationen sein (Kapitel 5). Denn in ihnen erkennt er den politischen Cézanne, der auf die Niederlage im Krieg gegen Preußen reagiert. Nicht die Tatsache selbst, dass Cézanne ein politischer Künstler gewesen sein soll, ist hier zu kritisieren, denn dafür führt Dombrowski eine ganze Reihe von Belegen an; vielmehr wird dieser Gehalt in meinen Augen in den Gemälden einfach zu wenig greifbar - auch wenn die Tricolore in einem der Werke einigermaßen auffällt. Bemerkenswert ist dabei allerdings der Hinweis auf den Stimmungswechsel, der bei der Übernahme stattgefunden hat: Aus den harmlos-werbenden Blättchen der Mode illustrée sind bei Cézanne geradezu existenzialistisch wirkende, dunkle Evokationen bürgerlichen Lebens in Zeiten des Krieges geworden.
Dombrowskis Buch ist ein Beispiel für die amerikanische Moderne-Forschung, die inzwischen in der Vielfältigkeit der historischen Kontextualisierung und der theoretisch abgestützten Identifikation ästhetischer Dispositionen ein hohes Maß an argumentativer Subtilität erreicht hat. Bodenständige Fachvertreter/innen werden manche Volte nicht mitmachen wollen und "Spekulation" rufen. Anregend ist das Buch aber gerade dort, wo sich die in einer kurzen Rezension nicht einmal ansatzweise zu reproduzierende Analyse feinster historischer Verästelungen mit dem Willen verbindet, das große Ganze des modernen Kunstbegriffs im Auge zu behalten und diesen im komplexen Gespinst von zeitgenössischer Psychologie, Physiologie, Sozialwissenschaft, Evolutionstheorie, Ästhetik und Literatur zu verorten.
Anmerkung:
[1] Nina M. Athanassoglou-Kallmeyer: Cezanne and Provence: The Painter in His Culture, Chicago 2003.
Hubertus Kohle