Rezension über:

Neil Christie / Andrea Augenti (eds.): Vrbes Extinctae. Archaeologies of Abandoned Classical Towns, Aldershot: Ashgate 2012, XX + 372 S., 32 Farb-, 106 s/w-Abb., ISBN 978-0-7546-6562-5, GBP 63,00
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Rezension von:
Sabine Panzram
Historisches Seminar, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Sabine Panzram: Rezension von: Neil Christie / Andrea Augenti (eds.): Vrbes Extinctae. Archaeologies of Abandoned Classical Towns, Aldershot: Ashgate 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 6 [15.06.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/06/22865.html


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Neil Christie / Andrea Augenti (eds.): Vrbes Extinctae

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Städteforschung ist en vogue. Vor nun schon beinahe zwei Jahrzehnten - im Jahre 1996 - hatte sich die Aufmerksamkeit auf die "Towns in Transition" gerichtet, also die zahlreichen und komplexen Transformationsprozesse im Vordergrund gestanden, denen sich die Eliten und ihre Institutionen ausgesetzt sahen; damit hatte man sich gegen das seinerzeit dominante Diktum einer Epoche der Dekadenz, des Ver- und Zerfalls von Städten, gestellt. [1] Nur wenig später war jedoch eine erneute Akzentuierung des Niedergangs der klassischen Stadtstrukturen erfolgt, der zu einem Ende der spätantiken Stadtkultur geführt hätte. [2] Schließlich hatte die Frage nach "Niedergang oder Wandel" auf eine Erfassung der Umstrukturierungsprozesse im Imperium Romanum mittels einer stärkeren regionalen und zeitlichen Differenzierung gezielt: Als Resultat ließen sich regionale "patterns" mit jeweils eigenständigen Charakteristika im Rhythmus einer "Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeiten" ausmachen, cum grano salis aber für den Zeitraum vom späten 3. bis zum frühen 5. Jahrhundert Kontinuität, für jenen vom frühen 5. bis zum frühen 7. Jahrhundert dagegen Wandel konstatieren. [3] Ausgelöst durch den "Untergang des Imperium" und die Christianisierung manifestierte sich dieser zum Beispiel in einem Auflösungsprozess der politischen Stadtgemeinschaft und in einem Abbau des städtischen Verwaltungsapparates. Insofern scheint es im Fortgang der Forschungsgeschichte nur folgerichtig, dass nun die "urbes extinctae", die verlassenen, aufgegebenen, ja "ausgelöschten" Städte in den Mittelpunkt des Interesses rücken.

Der vorliegende Band geht auf eine internationale Tagung im Jahre 2006 an der Universität von Leicester zurück; die "abandoned classical town", die den Archäologen der Universitäten Bologna-Ravenna, Barcelona, Budapest und Leicester Anlass gewesen war, dieses Phänomen einmal grundlegend zu thematisieren, war Classe. Die Grabungen an der spätantiken und frühmittelalterlichen Kirche von San Severo in dieser südlich von Ravenna gelegenen Stadt mit ihren Befunden und Funden von der frühen Kaiser- bis in die Neuzeit hatten nämlich zu der Erkenntnis geführt, dass man es bei diesem Typus von Stadt mit einer "vital archaeological resource" (4) zu tun hatte. Daher suchte man die Fragen, die sich im Laufe des Kooperationsprojektes ergeben hatten (Inwiefern kann Classe als paradigmatisch für die Entwicklung einer Stadt in diesen Jahrhunderten gelten? Was kann diese Stadt generell zu unserem Verständnis von "Niedergang" beitragen? Inwiefern beeinflussen aktuelle Untersuchungsperspektiven und moderne Grabungstechniken die Wahrnehmung von Kontinuitäten und Wandel, aber auch von Brüchen?), nicht nur unter Rückgriff auf andere Regionen der Apennin-Halbinsel, sondern auf solche im gesamten Mittelmeerraum zu beantworten. Denn Italien bietet zwar Beispiele wie Ostia, das hinsichtlich seiner Bevölkerung und Bedeutung im 3. Jahrhundert in dem Moment beachtliche Veränderungen erfuhr, als der benachbarte Hafen Portus wirtschaftlich an Bedeutung gewann, im 4. und 5. Jahrhundert aber dann offenbar eine neuerliche Blütezeit erlebte, die sich beispielsweise in privilegierten Wohnbauten spiegelt, bevor im 6. Jahrhundert ein Niedergang einsetzte, dessen Ursachen bisher noch nicht geklärt werden konnten. [4] Aber gerade weil es sich auch in diesem Fall um eine Hafenstadt handelt, besteht die Gefahr, dass Besonderheiten dieses Typus - wie die Abhängigkeit von wirtschaftlichen Zyklen - zu allgemeinen Charakteristika erklärt werden. So steht zum Beispiel außer Frage, dass die Überfälle zum einen von Alarichs Westgoten und zum anderen der Vandalen dem Hafen erhebliche Schäden zufügten, aber inwiefern diese Faktoren grundsätzlich zum Niedergang von Städten beitrugen, ist damit nicht gesagt. Das gilt auch für eine Naturkatastrophe wie ein Erdbeben, das eine Stadt wie Luni in Ligurien zwar im späten 4. Jahrhundert in ihren Grundfesten erschütterte, sich aber letztendlich nicht so verheerend auswirkte, wie man hätte annehmen können, fungierte sie doch noch im 6. und 7. Jahrhundert als bedeutende byzantinische Festungsstadt.

Als Fallbeispiele dienten mithin Potentia (Frank M.R. Vermeulen, 77-95) und Cosa (Enrico Cirelli / Elisabeth Fentress, 97-113); die Balearen (Miguel Á. Cau, 115-144) und Recopolis (Isabel Velázquez / Gisela Ripoll, 145-175); Kyrene (Gareth Sears / Vince Gaffney et al., 177-205) und Butrint (William Bowden / Richard Hodges, 207-241); Knossos und Sparta (Rebecca J. Sweetman, 243-273); sowie Hierapolis in Phrygien (Paul Arthur, 275-305), Dura-Europos (J.A. Baird, 307-329) und Calleva Atrebatum, das heutige Silchester in Hampshire (Michael Fulford, 331-351). Jede dieser Städte hat ihre - und das dürfte das eigentliche Ergebnis dieser Untersuchungen sein - ganz eigene, individuelle Geschichte. Die Archäologen verweisen en passant auf die Gründung, skizzieren knapp die "golden ages" und wenden sich dann ausführlich den Jahrhunderten zu, für die sich vor drei Jahrzehnten noch niemand interessiert hätte. Dieses erst jüngst artikulierte Interesse hatte auch Konsequenzen für die Art der Ausgrabungen, konzentrierte man sich doch grundsätzlich auf die Blütezeit und ging fahrlässig mit den spätklassischen Überresten um, wenn man sie nicht sogar einfach ignorierte. Daher erweist es sich zum Teil als notwendig, diese "Altgrabungen" einer Revision zu unterziehen - eine Herausforderung, der die modernen Archäologien sich insofern stellen können, als dass sie Dank der neuen Technologien in dieser Hinsicht große Fortschritte zu verzeichnen haben. Unter dem Label "urban landscape archaeology" kann so mit Hilfe von geomagnetischen Prospektionen und Oberflächensurveys das "Schrumpfen" städtischen Raumes festgestellt werden; und auch das Auffinden von Holzhäusern oder die Bestimmung nicht-importierter Keramik ist inzwischen möglich. Die "städtischen Individuen" reagierten entsprechend unterschiedlich auf strukturell gleiche Phänomene; aus der Fülle interessanter Einzelbeobachtungen sei nur das Beispiel Christianisierung herausgegriffen. Während die paganen Stätten in Gortyna, der ehemaligen Provinzhauptstadt Kretas und der Kyrenaika, im Laufe des 5. Jahrhunderts geschlossen, zerstört und überbaut wurden und man den Statuen teilweise ein Kreuz auf die Stirn oder die Brust meißelte, verlief dieser Prozess in Ephesus, der ehemaligen Provinzhauptstadt von Asia, mitnichten derart aggressiv: Selbst wenn hier Kirchen buchstäblich an Stelle von Tempeln gebaut wurden, geschah das ohne eine mutwillige Zerstörung derselben; häufig nutzte man jedoch auch die Gymnasia.

Bei einer derartigen Vielfalt von Einzelstudien ist eine Schlussbetrachtung, die nicht nur Gemeinsamkeiten und Unterschiede akzentuiert und den Status quo der Forschungen zusammenfasst, sondern auch künftige Forschungsfelder umreißt, mehr als wünschenswert. Andrea Augenti versucht sich in "A Tale of Many (Lost) Cities" an einer kurzen Fortsetzung des Narrativs der "post-classical afterlives" (353-357), benennt als modellhafte Fälle für Transformationen Städte, die zu einer Festung werden (Cosa); Städte, deren urbane Strukturen sich allmählich verflüchtigen, bis sie ihren städtischen Charakter verlieren (Classe); Städte, die bewusst aufgegeben (Recopolis / Leopolis) und solche, die explizit neu gegründet werden (Venedig / Ferrara). Weiter geht er nicht, sondern schließt mit dem Wunsch, der Band möge als "notable stimulus" (357) wirken. Das wird er mit Sicherheit: Schon jetzt zeugt mehr als eine neue Studie von der Erforschung der städtischen Lebenswelten im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter. [5] Es bleibt jedoch zu hoffen, dass sich unter diesen bald auch eine findet, die sich angesichts dieser Fülle von Fallbeispielen an dem so notwendigen konzeptionellen "approach" versucht.


Anmerkungen:

[1] N. Christie / S.T. Loseby (eds.): Towns in Transition. Urban Evolution in Late Antiquity and the Early Middle Ages, Aldershot 1996.

[2] J.H.W.G. Liebeschuetz: The Decline and Fall of the Roman City, Oxford 2001.

[3] J.U. Krause / C. Witschel (eds.): Die Stadt in der Spätantike - Niedergang oder Wandel? Internationales Kolloquium München 2003, Stuttgart 2006 (= Historia-Einzelschrift; 190).

[4] Auch diese Jahrhunderte Ostias können inzwischen Dank des so genannten "Kent-Berlin Ostia Excavations"-Projektes unter Leitung von Luke Lavan und Axel Gering als gut erforscht gelten, siehe: http://lateantiqueostia.wordpress.com/historical-overview (Zugriff: 30.04.2013).

[5] So zum Beispiel C.P. Dickenson / O.M. van Nijf (eds.): Public Space in the Post-Classical City. International Colloquium. Fransum 2007, Leuwen 2013 (= Caeculus; 7); F. Riess: Narbonne and its Territory in Late Antiquity. From the Visigoths to the Arabs, Ashgate 2013; S. Diefenbach / G.M. Müller (eds.): Gallien in Spätantike und Frühmittelalter: Kulturgeschichte einer Region (5.-7. Jahrhundert n.Chr.), Berlin (= Millennium-Studien. Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n.Chr.) (im Druck).

Sabine Panzram