Rengenier C. Rittersma: Egmont da capo - eine mythogenetische Studie (= Niederlande-Studien; Bd. 44), Münster: Waxmann 2009, 347 S., ISBN 978-3-8309-2134-9, EUR 39,90
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Friedrich Schiller betont in seiner 'Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung', "gerade der Mangel an heroischer Größe" mache "die Gründung der niederländischen Freiheit" besonders lehrreich. [1] In stiller Übereinstimmung mit dieser Bewertung Schillers wurde auch Lamoraal van Egmont lange keine heroische Größe zugewiesen. Gleichwohl blieb er bis heute im Gedächtnis. Rengenier Rittersma untersucht nun die Entstehung und die Wandlungen der "mythischen" Figur Egmont (16). Methodisch schließt sich die Studie an Hans Blumenberg und Roland Barthes an. Sie setzt mit der zeitgenössischen Rezeption Egmonts ein und endet im Kern mit den späten 1780er Jahren, in denen Egmont endgültig zum Mythos geworden sei. [2]
Das erste der drei Großkapitel gehört Egmont in der Protohistorie. Die Autoren der ersten Generation, die den Grund für das spätere Egmont-Bild gelegt hätten, reagierten auf die Hinrichtung Egmonts und Hoorns. Rittersma identifiziert in ihren Texten unterschiedliche Motiv-Schichten. Dazu gehören die Verbindung Egmonts mit der sich gegen Spanien richtenden Schwarzen Legende und dem Batavermythos, eine Linie, die unter anderem Hugo Grotius aufgreifen sollte. Egmonts Charakterzeichnung differiere deutlich: Sei er in den einen Berichten "passiv und einsilbig", so in einem anderen "voller Initiative und Selbstachtung", andernorts wieder "opportunistisch" und "naiv-verblendet" auf seinen Vorstellungen beharrend (53, 55). Arglosigkeit und Naivität sollten in der Folge zu einem Standardmotiv der Beschreibung Egmonts werden. Dem Zeitalter, das den sich verstellenden Höfling zum Ideal erhob und durch Verhaltenskodizes, Konfessionsschriften und die Staatsräson politische Stabilität zu erreichen versucht habe, erschien er als ungeeignet für die politische Sphäre. Indem aber im Zuge der Frühaufklärung die bloß vorgetäuschte Aufrichtigkeit in Misskredit gekommen sei, habe Egmont gerade zum Tugendvorbild werden können.
Rittersma setzt dergestalt, und das zeichnet diese sehr detailreiche Studie aus, die Egmont-Erzählungen versiert mit den zu ihrer Zeit je aktuellen politiktheoretischen Fragen und politischen Debatten in Beziehung und macht deutlich, wie in der Figur 'Egmont' Geschichte zum politischen Argument und zur magistra vitae wurde. En passant fließen zahlreiche Informationen zu zeitgenössischen Denkvorstellungen und zur Rhetorik mit ein. Dazu kommen Hinweise auf die Motivationen der Autoren und ihre Karrierewege, ihre Quellen, teilweise auch Erwägungen, wie Autoren praktisch zu ihren Quellen gekommen sind. Wo es erhellend erscheint, bezieht Rittersma Vergleichsgestalten (Hoorn, Alba, Oranien) mit ein, so beim Italiener Guido Bentivoglio, der Wilhelm von Oranien als machiavellistische Fuchsnatur zeichne, während ihm der impulsive Egmont eher für das Schlachtfeld als den Hof geeignet erscheine.
Im der Geschichtsschreibung des 17. und 18. Jahrhunderts gewidmeten zweiten Teil zeigt Rittersma unter anderem, wie sich beim Umgang mit dem Grafen konfessionell-politische Frontlinien auswirkten und markiert werden konnten. Katholische Geschichtsschreiber bezogen Position, indem sie Egmont unmittelbar vor seinem Tod wünschen ließen, für den König zu sterben - und nicht für das Land. Erzherzog Albrecht von Österreich habe als Statthalter der südlichen Niederlande gar längerfristig mehrere Historiker gefördert, um ein Gegengewicht gegen die nordniederländische Geschichtsschreibung zu schaffen. Um Egmont politisch zu diskreditieren, sei er hier gerade nicht als harmlos präsentiert, sondern seine Lebensweise als moralisch verwerflich dargestellt worden.
Teil drei behandelt 'Egmont im europäischen Revolutionszeitalter'. Schillers niederländische Geschichte und der 'Egmont' Goethes stehen im Mittelpunkt, jene Formen des Egmontschen Weiterlebens, die seit langem das größte Interesse auf sich ziehen. Rittersma verfolgt die Entstehungsgeschichte beider Werke. Es geht um die Intentionen ihrer Autoren und Einflußfaktoren wie den Voltaires auf die Charakterzeichnung Egmonts. Zentral ist die Frage, inwieweit Erwägungen des Politikers Goethe bzw. aktuelle politische Geschehnisse die Texte prägten - so die Brabanter Revolution oder die preußische Intervention gegen die niederländische Patriotenbewegung, an der mit Herzog Carl August auch der sachsen-weimarische Landesherr teilnahm. Die Überlegung, Goethe sei über das Herzogspaar d'Ursel mit dem vorrevolutionären "Egmont-Kult" (245) in den österreichischen Niederlanden bekannt geworden, muß angesichts der Quellenlage allerdings im Hypothetischen bleiben. Nach der Französischen Revolution sei die Egmont-Rezeption im Grunde eine Goethe-Rezeption. Egmont verkörpere nun aber nicht länger das "Ideal der inneren Freiheit", sondern werde zum "herkömmlichen politischen Freiheitshelden" (274) und um 1830 zur Identifikationsgestalt des entstehenden Königreichs Belgien.
Das Buch ist tatsächlich eine europäische Studie, die auf Quellen verschiedenster Sprachen basiert. Manche der vielen bildlichen Ausdrücke wirken freilich etwas gewöhnungsbedürftig, wie die "Stromschnelle im Gemüt der Zeitgenossen", die sich "als unmittelbare Reaktion auf die Enthauptung" Egmonts gebildet und "einige der Betroffenen dazu genötigt" habe, "ihre Erfahrung zu Papier zu bringen" (29). Es ist jedenfalls unterhaltsam, wenn der beständige Drang des Autors Pieter Christiaenzoon Bor nach "dokumentarischer Untermauerung" nicht nur mit dem Streben nach Unparteilichkeit und Wahrheit, sondern auch mit seiner "Berufsdeformation" als Notar sowie "einem eher anspruchslosen Charakter" erklärt wird (130).
Rittersma ist souverän im Umgang mit den 'großen' Theorien, er nutzt sie da, wo sie fruchtbar werden können. Der Mythos ist für ihn kein reines Konstrukt, er lebe von einem Substrat. So kritisiert er den "Machbarkeitsglauben" in der Geschichtswissenschaft, der Traditionen nur noch als erfunden gälten und die suggeriere, die früheren Generationen hätten sich ihre Welt ohne weiteres selbst erschaffen. Untersuche man diese "Inventionalitis", werde man die Erfindung der Erfindung offenlegen (288).
Der Autor selbst spricht von der Mythogenese, für die er ein Beispiel aus der Biologie heranzieht: die Mykorrhiza, die Symbiose von Pilz und Wurzeln. Die Übertragung auf den Menschen vermag nicht ganz zu überzeugen. Zuzustimmen ist aber der Feststellung, dass sich die Geschichte immer wieder in einer Geschichte verdichte. Neben Jeanne d'Arc seien Prinzessin Diana oder die Geschehnisse um 9/11 vergleichbare Beispiele solcher Mythogenesen, in denen Vergangenes aktualisiert und ihm Bedeutung für die Zukunft zugewiesen werde. Solche Prozesse will die Arbeit - erfolgreich - zudem allgemein erhellen. Zu denken wäre auch an Gestalten wie Wallenstein, der gerade deshalb die Forschung wie die Populärkultur faszinierte und polarisierte, weil er sich als in besonderer Weise deutungsoffen erwies. Rittersmas 'Egmont' zeigt jedenfalls beides - das Wie und das Warum eines langen Nachlebens.
Anmerkungen:
[1] Friedrich Schiller: Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung, in: ders.: Sämtliche Werke, hgg. v. Gerhard Fricke / Herbert G. Göpfert, Bd. 4: Historische Schriften, 7. durchges. Aufl. München 1988 (Hanser-Ausgabe), 27-361, hier 33f.
[2] Eine Vorläuferstudie ist Herman van Nuffel: Lamoraal van Egmont in de Geschiedenis, Literartuur, Beeldende Kunst en Legende, 2. Aufl. Leuven 1971.
Astrid Ackermann