Christoph Neubert / Gabriele Schabacher (Hgg.): Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien (= Kultur- und Medientheorie), Bielefeld: transcript 2013, 317 S., ISBN 978-3-8376-1092-5, EUR 34,80
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Schon der allgemein gehaltene Titel des zu besprechenden Sammelbandes verspricht einen Brückenschlag zwischen zwei Disziplinen, die auf den ersten Blick gegensätzlicher kaum sein könnten. Auf der einen Seite die Verkehrsgeschichte, die lange Zeit vor allem in der Verkehrswissenschaft betrieben wurde oder aber als Subdisziplin der Wirtschaftsgeschichte - kulturwissenschaftlichen Ansätzen eher unverdächtig. Auf der anderen Seite die Kulturwissenschaft(en), die gerade aus sozialwissenschaftlicher oder sozialgeschichtlicher Perspektive für allzu große Abstraktion gescholten werden und dafür, dass durch die (vermeintliche) Fokussierung auf frei flottierende Zeichenketten alle politischen, ökonomischen oder materiellen Realitäten vergessen würden. Nun tritt dieser lange angekündigte Sammelband an, um mit einer ganzen Reihe recht unterschiedlicher Ansätze diese Trennung zu überbrücken, ja sogar die Unvereinbarkeit beider in Frage zu stellen.
Denn eigentlich, so die Herausgeber, sind Kulturwissenschaft und Verkehrsgeschichte nicht nur kompatibel, sondern beinahe aufeinander angewiesen. Das werde dann deutlich, wenn - wie in der Einleitung - der Verkehrsbegriff begriffsgeschichtlich "zurückgedreht" wird. Denn Verkehr bezeichnete lange Zeit viel mehr als nur das Dach über Güter-, Personen- und Nachrichtenverkehr. Noch im 18. Jahrhundert fiel nicht nur der Waren- und Handelsverkehr darunter, sondern auch jedweder gesellschaftliche Kontakt, wie am (etwas altertümlichen) Verb "verkehren" noch sichtbar ist. Darüber hinaus gibt es noch ältere Bedeutungsschichten, die die Konnotation von Verwandlung, Verwechslung, Umkehrung tragen - sichtbar im Adjektiv "verkehrt". Die etymologische Verengung des späten 19. Jahrhunderts, die Fixierung von Verkehr also auf künstliche Transporteinrichtungen einerseits, die Ausdifferenzierung in (grundsätzlich zu unterscheidende) Bereiche von Güter-, Personen- und Nachrichtenverkehr andererseits, wollen die Herausgeber unterlaufen und die ursprüngliche Bedeutung, die Verkehr in den Kontext von "Vermittlung und Verwandlung, [...] Übertragung und [...] Transformation" (22) rückt, wiederherstellen. So soll die grundsätzliche Scharnierfunktion des Verkehrs zwischen Symbolischem und Kommunikativem auf der einen, Materiellem und Technischem auf der anderen Seite verdeutlicht werden. Zudem können Transformationsvorgänge - die Veränderung der Objekte im Transit - damit auch Teil von verkehrshistorischer Kulturwissenschaft oder kulturwissenschaftlicher Verkehrsgeschichte werden.
Der Fokus des Bandes liegt dabei auf der zweiten Alternative. Das ist zum einen dem Ursprung des Buches geschuldet, entstammt es doch dem Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 427 "Medien und kulturelle Kommunikation" in Köln, zum anderen den Beteiligten, die zum überwiegenden Teil Kultur- und Medienwissenschaftler sind. Hier zeigt der Band, wie stark verkehrshistorische Überlegungen und Wissensbestände kommunikations- und kulturwissenschaftliche Ansätze insbesondere an die Funktionsbedingungen von Kommunikation, etwa Infrastruktur, rückbinden können. Zu Recht wenden sich die Herausgeber bereits auf der ersten Seite der Einleitung gegen eine allzu eilige Diagnose einer "space-time-compression" (Harvey) oder der "Implosion" des Globus (McLuhan) und bemühen sich um Abwägung und Differenzierung.
Der Band gliedert sich in drei Abschnitte: "Epistemische Transfers", "Infrastrukturelle Kopplungen" und "Ästhetisch-kulturelle Innovationen". Allen dreien ist gemeinsam, dass sie sowohl die metaphorischen wie auch die materiellen Aspekte von Verkehrsgeschichte aufgreifen, um kulturwissenschaftliche Konzepte zu kontextualisieren, weiterzutreiben oder kritisch zu überprüfen.
Im ersten Abschnitt geht es um theoretische Konzepte und die Potentiale der Verkehrsgeschichte. So legt etwa Christoph Neubert anhand des wenig rezipierten Werks Bruno Latours "Aramis, or the Love of Technology" dar, wie eng Actor-Network-Theory und Verkehrsinfrastruktur miteinander verbunden sind. Verkehr ist nicht nur eine Metapher für das Soziale bei Latour, vielmehr wird das Soziale in dieser Theorie durch Netze aufrechterhalten - Netze, die immer auch ganz konkrete Kommunikations- und Verkehrsnetze sind.
Im zweiten Abschnitt werden die unterschiedlichen Erkenntnispotentiale des Infrastrukturbegriffs für kulturwissenschaftliche Zusammenhänge ausgelotet. Der konzise Aufsatz von Dirk van Laak fasst derzeitige Forschungen zum Zusammenhang politischer Herrschaft, Territorialisierung und (Verkehrs-)Infrastruktur zusammen und gibt einen wichtigen Einblick in die Forschungen zur Konstruktion des europäischen Raums durch infrastrukturelle Planungen. Gabriele Schabacher steuert einen Aufsatz über die Rohrposten bei, der nicht nur informativ ist und das lange unterschätzte Verkehrssystem Rohrpost vorstellt. Darüber hinaus zeigt sie, dass die Rohrpost ein Ansatzpunkt ist, um die Gewissheiten von immaterieller Kommunikation oder die Dichotomie von innerem und äußerem Verkehr aufzubrechen. Denn die Rohrpost ist uneindeutig und macht klar, dass die absolute Entkopplung von Kommunikation und Verkehr im 20. Jahrhundert vorschnell angenommen wird. Damit ermöglicht Schabacher es, theoretische Ansätze, die auf dieser Gewissheit aufbauen, kritisch zu hinterfragen.
Der dritte Abschnitt schließlich rückt ästhetische Konzeptionen in den Vordergrund. Besonders bemerkenswert erscheint mir hier der Beitrag von Markus Krajewski, der mit seinem Titel - "Der Nomos der Blume" - zunächst Abwehrreaktionen hervorruft. Handelt es sich hierbei nicht nur um eine modische Metaphorik, die keinen Erkenntnisgewinn jenseits hübscher Begrifflichkeiten verspricht? Krajewskis Beitrag überrascht jedoch positiv. Minutiös zeichnet er die Entstehung des Blumengrußdienstes Fleurop ebenso nach wie die nachträgliche Vereinheitlichung und Vereindeutigung dieser Gründungsgeschichte. Er trägt damit zum einen bei zu einer Geschichte der Innovationen - wie entstand das Medienverbundsystem Fleurop im Kontext einer sich globalisierenden Welt? -, zum anderen verdeutlicht er aber auch, wie sich das Objekt Blume in diesem Kontext selbst verändert, auch zu einem Medium wurde und seine Ortsgebundenheit verlor. Vom Nomos der Blume und seinen Transformationen durch Verkehr zu sprechen ist also mehr als gerechtfertigt und ermöglicht neue Einsichten in die Funktionsweise von solchen Medienverbundsystemen.
Wenn auch auf den ersten Blick der Fokus eher auf den Gewinnen liegt, die die Kulturwissenschaft aus der Integration der Verkehrsgeschichte ziehen kann, so ist doch das Buch eine wirklich lohnende Lektüre auch für Historiker. Zum einen sind die meisten Beiträge schlichtweg gut geschrieben, anregend und klug. Zum zweiten ist die Reflexion von materiellen und immateriellen Voraussetzungen von Kommunikations- und Austauschprozessen auch für Historiker interessant, um nicht allzu eilfertig die im vorliegenden Band kritisierten kulturwissenschaftlichen Befunde von der Implosion des Raumes in Zeiten der Kommunikationsverdichtung zu übernehmen. Und zum dritten verdeutlicht der Band, wie viele Ansatzpunkte die Verkehrsgeschichte für kulturwissenschaftliche Methoden bietet, die von Seiten der Historiker noch längst nicht ausgeschöpft sind.
Anette Schlimm