Rezension über:

Uta Bretschneider / Jens Schöne: Provinzlust. Erotikshops in Ostdeutschland, Berlin: Ch. Links Verlag 2024, 223 S., 94 Farb-Abb., ISBN 978-3-96289-198-5, EUR 35,00
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Rezension von:
Anette Schlimm
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Anette Schlimm: Rezension von: Uta Bretschneider / Jens Schöne: Provinzlust. Erotikshops in Ostdeutschland, Berlin: Ch. Links Verlag 2024, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 10 [15.10.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/10/39259.html


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Uta Bretschneider / Jens Schöne: Provinzlust

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Die Geschichte der Umbrüche in Ostdeutschland um 1990 ist in den letzten Jahren stärker ins Blickfeld der historischen Forschung gerückt. Gerade die Transformation bestimmter Wirtschaftszweige wird nicht nur unternehmens-, sondern auch erfahrungsgeschichtlich zu entschlüsseln versucht. Auch wenn nicht mehr nur die Frage nach einer Angleichung an einen westlichen Standard die Erzählungen strukturiert, so werden doch oft Geschichten von Niedergang und Verlust erzählt. [1] Nun wird diesem Forschungstrend eine neue Facette hinzugefügt. Mit der Geschichte von Erotikshops in der ostdeutschen Provinz haben die Kulturwissenschaftlerin Uta Bretschneider und der Historiker Jens Schöne einen auf den ersten Blick exzentrischen Gegenstand gewählt. In "Provinzlust" erzählen sie von Aufbrüchen, Experimentierfreude, Neuem, und eben nicht primär vom Niedergang und Verlust des Alten.

Zwischen Sommer 2021 und 2023 besuchten die Autorin und der Autor eine ganze Reihe von Sexshops in Ostdeutschland und führten Interviews mit denen, die die Läden gründeten und zum Teil bis heute betreiben. Bretschneider half sogar mehrere Tage in einem kleinen inhabergeführten Geschäft in Sachsen-Anhalt aus. Ihre Eindrücke haben beide in die Form eines Lese-Fotobuchs gebracht. Gut lesbar und anschaulich strukturiert entlang der Läden beziehungsweise der mit ihnen verwobenen Lebensgeschichten, ist das Buch eine Fundgrube für all diejenigen, die sich für die Erfahrungsgeschichte der Transformationszeit interessieren und sie gerne von ihren Rändern her entdecken wollen.

Sexshops gab es in der DDR nicht, der Handel mit erotischem Material - ob nun Pornographie oder Spielzeug - war verboten; erotische Wäsche dürfte in der Konsumkultur der DDR auch eher Mangelware gewesen sein. Erst mit der Wende in Ostdeutschland kamen auch die Sexshops, und sie kamen nicht nur als westdeutsche Ketten in die Städte, sondern auch als inhabergeführte Geschäfte. Die Betreibenden erprobten das Kleinunternehmertum und machten Erfahrungen mit westlichen Geschäftspraktiken - denn oftmals kamen Partner, vor allem aber die Waren aus Westdeutschland.

Dass mit Bretschneider und Schöne nun ausgerechnet ein Duo mit Expertise für ländliche Räume sich der Geschichte der Sexshops angenommen hat, rückt die Provinz in den Fokus - auch wenn die Hoffnung der beiden, in die Dörfer Ostdeutschlands vorzudringen, bis auf wenige Ausnahmen enttäuscht wurde. Denn zwar hörten sie ab und an von Shops in kleinen Siedlungen, doch die meisten hatten bereits mit dem Ende des Nachholgeschäfts in den späten 1990er oder dem Boom des Versandhandels in den 2010er Jahren geschlossen. Daher ist das Duo vor allem in ostdeutsche Kleinstädte gereist, von Oschatz über Ilmenau bis Cottbus, und dort oft an die Stadtränder. [2] Geschichten über Leben und Wirtschaften in den Peripherien, die in der Geschichtswissenschaft so oft ausgeblendet bleiben, finden ihren Platz im Buch. Der Topos des Randes wird in den Gesprächen häufig bemüht, leider jedoch wenig historisiert. Oder anders formuliert: Wie die heutigen Peripherien an den Rand wanderten, während sie zum Teil in der DDR durchaus regionale Zentren gewesen waren - diese Geschichte bleibt noch zu erzählen. Dafür müssen jedoch Begriffe wie Peripherie und Provinz ebenso wie die tatsächlichen Raumgefüge historisiert werden.

Höchst relevant ist die Geschichte der Erotikshops für eine erweiterte Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte. In den Schilderungen der Interviewten tauchen immer wieder Topoi auf, die auf einen möglicherweise spezifischen (post-)sozialistischen Wirtschaftsstil hinweisen. Es geht um Improvisationstalent und ums Durchwurschteln, um die Kombination verschiedener Einnahmequellen und auch um eine spezifische Lust an der Unternehmung - und eine Unternehmung mit der Lust. Wird am Beispiel der Erotikbranche das deutlich, was für andere postsozialistische Länder bekannt ist, nämlich der Boom von Kleinunternehmen in den frühen 1990er Jahren? Stellt die Erotikbranche damit in Ostdeutschland eine Ausnahme dar, oder hat die Zeitgeschichtsforschung mit ihrem Fokus auf die Deindustrialisierung diese wirtschaftliche Transformation "von unten" bislang übersehen? Damit ließen sich interessante historische Problemfelder, etwa zur Kredit- und Warenbeschaffung, erschließen.

Ohne diese Fragen zu beantworten, gibt "Provinzlust" erste Hinweise darauf, dass die weiterhin ungeprüft kolportierten Vorstellungen von einer unverkrampften Sexualität im FKK-Wunderland DDR so nicht stehen bleiben können. Denn viele Interviewte betonen, sie würden letztlich einen ganz normalen Laden betreiben. Offenbar ist es für sie notwendig, das Geschäft mit Sex und Erotik permanent zu normalisieren. Gleichzeitig erzählen sie, wie "ausgehungert" nach erotischen Waren die Ostdeutschen direkt nach der Wende gewesen seien (89). Hier wäre auch eine genauere Analyse von Stadt-Land-Unterschieden interessant - positionier(t)en sich die Shops in kleineren Orten anders als in der Stadt? Und mit welchen Herausforderungen hatten die Inhaberinnen und Inhaber im lokalen Alltag zu kämpfen, etwa in der Auseinandersetzung mit kommunalen Stellen oder mit anderen Gewerbetreibenden? Welche Rolle spielten hier weiterhin traditionelle Moralvorstellungen, die doch angeblich durch vierzig Jahre Sozialismus hinweggefegt worden waren?

Dem Buch ist die breite Rezeption zu wünschen, auf die es ausgelegt ist. Gegenüber den Schilderungen der Besuche vor Ort fällt die wissenschaftliche Rahmung mit Einleitung und Schluss mit 16 sehr locker gesetzten Seiten denkbar knapp aus. Viele Fragen, die bei der Lektüre entstehen und auf das große wissenschaftliche Potenzial des Untersuchungsgegenstandes hinweisen, bleiben zunächst unbeantwortet. Daher ist darauf zu hoffen, dass Bretschneider und Schöne für die Analyse des wertvollen gesammelten Materials separate Publikationen nutzen werden.


Anmerkungen:

[1] Beispiele dafür sind die sehr unterschiedlichen und sehr lesenswerten Bücher Ulf Brunnbauer u. a.: In den Stürmen der Transformation. Zwei Werften zwischen Sozialismus und EU, Berlin 2022; Christian Rau: Hungern für Bischofferode. Protest und Politik in der ostdeutschen Transformation, Frankfurt/New York 2023.

[2] Provinz ist hier alles, was nicht Großstadt ist - also bis zu einer Einwohnerzahl von 100.000.

Anette Schlimm