Reinhild Kreis: Selbermachen. Eine andere Geschichte des Konsumzeitalters, Frankfurt/M.: Campus 2020, 586 S., ISBN 978-3-593-51199-3, EUR 39,95
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In Else Urys Kinderbuchklassiker Nesthäkchen muss sich Annemarie Braun in mehr als einem Band mit weiblichen Handarbeiten herumschlagen. Sie soll stricken und sticken, aber das lebhafte Kind hat keine Geduld. So landet das Strickzeug mehr als einmal in der Ecke, während Nesthäkchen davonspringt, auf dem Weg zu neuen Abenteuern. Im Roman wird das stets mit einem Augenzwinkern erzählt, und auch als Annemarie längst erwachsen ist und einen eigenen Haushalt führt, ist ihre Unfähigkeit beim Stopfen, Nähen und Backen noch Anlass zu mancher Belustigung im Freundes- und Familienkreis. Doch im Hintergrund steht die Norm, dass Annemarie als Mädchen aus gutem Hause und als vernünftige Hausfrau diese Dinge eigentlich beherrschen sollte.
Solche und viele andere Fundstücke, die das Selbermachen in Deutschland im langen 20. Jahrhundert zum Gegenstand haben, greift Reinhild Kreis in ihrer Studie auf und fügt sie zu einem Mosaik von Praktiken des Selbermachens und ihrer Thematisierung zusammen. Diese Praktiken waren (und sind) ein integraler Bestandteil von Konsumgesellschaften, haben aber bislang noch keine Aufmerksamkeit innerhalb der Geschichtswissenschaft erhalten. Kreis betritt also Neuland, und diese Erkundung lohnt sich.
Denn die Praktiken des Selbermachens sind nicht nur Teil einer Geschichte des Konsums, des Markts und der sich wandelnden Bedürfnisse, sondern auch der Strukturierung und Disziplinierung von Zeit, sie sind Teil der Geschichte von Geschlechterordnungen und politischer oder pädagogischer Regulation von Verhaltensweisen. Politische Herrschaft und gesellschaftliche Machtverhältnisse lassen sich so analysieren, historische Zäsuren und politische Systeme treten in einer ganz spezifischen Weise hervor. Zudem waren sie für große Teile der Bevölkerung im 20. Jahrhundert Teil ihres Alltagserlebens und damit wichtige Ansatzpunkte für eine erfahrungsgeschichtliche Grundierung der Zeitgeschichte. Über die Praktiken und Diskurse des Selbermachens ist es also möglich, eine deutsche Gesellschaftsgeschichte zu schreiben, die von eher unauffälligen Phänomenen ausgeht und doch in das Zentrum dieser sich entwickelnden und schließlich florierenden Konsumgesellschaft vordringt.
Zunächst widmet sich Kreis den "Anleitungen zum Selbermachen", es geht also um Diskurse über das Selbermachen, die Sinn und Überlegenheit von Praktiken des Reparierens, Heimwerkens, Einkochens, Selberbackens etc. in den Vordergrund stellen. Hier wird Selbermachen auch als spezifische Form der Disziplinierung sichtbar, oft deutlich ausgeprägter als bei Nesthäkchen. Denn Praktiken und Diskurse des Selbermachens waren in den jeweiligen gesellschaftlichen Machtverhältnissen verwurzelt. In den untersuchten Anleitungen ging es um "gute" Zeiteinteilung, um "angemessenes" Verhalten von Männern, Frauen, Kindern und Mitgliedern der gesellschaftlichen Unterschicht. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bildeten sich Leitbilder heraus, die für das gesamte lange 20. Jahrhundert stilprägend blieben: Einerseits wurden Praktiken des Selbermachens stark in den Markt integriert, auf dem Hilfsmittel und Zutaten angeboten wurden, andererseits wurden diese Praktiken immer auch als Möglichkeit diskutiert, sich als Subjekt in einer bestimmten Weise, nämlich als verantwortungsvolle Konsumentin oder verantwortungsvoller Konsument, auf dem Markt zu positionieren (und zwar in einer vergeschlechtlichten Weise). Auch konkrete Formen der Konsumkritik entstanden im Kontext der Praktiken des Selbermachens, sowohl zu Beginn als auch am Ende des 20. Jahrhunderts.
Eine besondere Verdichtung stellte das Zeitalter der Weltkriege dar. Denn das Selbermachen diente als Strategie, um mit Mangelsituationen umzugehen. Politikerinnen und Politiker versuchten, auf diese Praktiken Einfluss zu nehmen, sie sowohl anzuregen als auch einzuhegen, immer mit Blick darauf, was für Nation, Volk oder Volkswirtschaft gerade nützlich erschien. Aber das Selbermachen ließ sich nicht restlos regulieren, die Akteurinnen und Akteure zeigten einen ausgeprägten Eigensinn - schon alleine deshalb, weil ihnen selbst oft nicht bewusst war, dass ihr Selbermachen gesellschaftliche Relevanz hatte.
Auch nach 1945 blieb Selbermachen wichtig. In der Massenkonsumgesellschaft differenzierten sich die Möglichkeiten für das Selbermachen stark aus; immer neue Bedürfnisse und Wünsche wurden auch über Praktiken des Selbermachens erfüllbar. In der verhinderten Massenkonsumgesellschaft der DDR galt das auch, realisierte sich aber unter anderen gesellschaftlichen Vorzeichen in deutlich anderer Weise. Hier wird auch sehr plastisch, wie sehr die Politikerinnen und Politiker im sozialistischen Wirtschaftssystem versuchten, die Praktiken des Selbermachens zunächst als destabilisierend zu verhindern, sie später aber anregten, in der Hoffnung, dass so das marode planwirtschaftliche System stabilisiert werden könne.
Kreis zeigt die Praxis des Selbermachens als ein ungemein vielschichtiges Phänomen der Geschichte des 20. Jahrhunderts, das sich allen eindeutigen Zuordnungen widersetzt. Weder kann es eindeutig als ein disziplinierendes Werkzeug noch als ein solches der Emanzipation gelesen werden. Praktiken des Selbermachens waren individuell und gleichzeitig höchst sozial. Selbermachen ermöglichte es, Bedürfnisse zu befriedigen und immer neue zu kreieren, gleichzeitig hatte es Auswirkungen auf die Subjektivierung der Akteurinnen und Akteure, auf ihr Verhältnis zu sich selbst wie zur Welt. Mit dieser Vielschichtigkeit muss man umgehen, muss widerstehen, die vielfältigen Facetten allzu sehr auf einen Nenner bringen zu wollen. Trotzdem verlangen wir als Historikerinnen und Historiker mit Fug und Recht, dass eine Studie auch zu klaren Ergebnissen kommt und nicht nur im Additiven verbleibt. Reinhild Kreis gelingt beides. Sie leuchtet die Vielschichtigkeit des Phänomens im Dazwischen aus. Gleichzeitig macht sie beispielsweise deutlich, welche starken geschlechtlichen Konnotationen das Selbermachen hatte (und bis heute hat). Ebenso zeigt Kreis, dass Selbermachen eine wichtige soziale Strategie war, um mit Mangel umzugehen. Und obwohl diese Strategie hochwirksam war, war sie doch nicht dazu in der Lage, soziale Unterschiede einzuebnen. Galt Selbermachen in einem eher gut situierten Milieu auch als Distinktionsmerkmal und Variante, sich selbst als schaffendes, zupackendes, aktives Subjekt sichtbar zu machen, war Selbermachen in anderen sozialen Gruppen ein schambehaftetes, weil sichtbares Zeichen der Unmöglichkeit, sich am Markt mit Konsumgegenständen versorgen zu können.
Reinhild Kreis' Buch zum Selbermachen ist eine innovative Studie, der eine breite Leserschaft nur gewünscht werden kann. Gut lesbar, einen langen Zeitraum abdeckend, viele Aspekte der Gesellschaftsgeschichte Deutschlands berührend, mit einer innovativen thematischen und methodischen Anlage hat dieses Buch alles, was es braucht, um zu einem wissenschaftlichen Longseller zu werden. Das tröstet auch darüber hinweg, dass in den genutzten Quellen allzu oft die Perspektiven derjenigen überwiegen, die über das Selbermachen räsonieren, statt selbst tätig zu werden. Denn das Buch verspricht anregendes Nachdenken über das Verhältnis von Markt und Selbermachen und regt hoffentlich viele Studien an, die sich mit den Grenzbereichen von Konsum- und Marktgesellschaften beschäftigen werden.
Anette Schlimm