Werner Bätzing: Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform, München: C.H.Beck 2020, 302 S., ISBN 978-3-406-74825-7, EUR 26,00
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Schon im Untertitel klingt an, welchen Anspruch Werner Bätzing mit seinem Buch verknüpft: einen historischen Überblick über den ländlichen Raum zu geben und damit Orientierungswissen für die Zukunft bereitzustellen. Wenig überraschend für Historikerinnen und Historiker ist, dass der Autor selbst kein Historiker ist, sondern Geograph. Das wird in den sehr langen historisierenden Passagen des Buchs deutlich, die für Historikerinnen und Historiker sehr vereinfachend und verallgemeinernd, oft sogar unterkomplex sind. Aber dem Autor geht es nicht um eine neue historische Sicht auf das Land, sondern um eine Rekapitulation von sozialhistorischem Grundwissen, um daraus eine neue Perspektive für Gegenwart und Zukunft abzuleiten.
Mit dem gut 250 Seiten umfassenden und locker geschriebenen Buch legt Bätzing eine Quintessenz seiner langjährigen professionellen Beschäftigung mit dem ländlichen Raum vor. Im Zentrum steht die Geschichte der letzten 200 Jahre, in denen die Jahrtausende alte Verbindung zwischen Stadt und Land sich in einen scharfen Gegensatz verwandelt habe. Die "Industrielle Revolution" habe nicht nur die Wirtschaftskraft, sondern auch Bevölkerung und Kultur in den Städten konzentriert und das Land zu einem Hort von "Beharrung, niedrige[r] Lebensqualität und Langeweile" (100) gemacht. Damit sei auch das traditionell nachhaltige Wirtschaften auf dem Land ins Hintertreffen geraten: Die "Industriegesellschaft [wirtschaftet] lediglich kurzfristig und individualistisch und verschiebt die Lösung aller Probleme, die daraus erwachsen, in die Zukunft" (122).
Im nächsten Schritt wendet sich der Autor bereits den Jahrzehnten zwischen 1960 und 1980 zu, die er vor allem unter dem Fokus staatlicher Planung betrachtet. Nun hätten Agrarmodernisierung, demographischer Wandel und Gebietsreformen das Land immer weiter seiner ländlichen Identität entkleidet, "das moderne Landleben nähert sich immer mehr dem modernen, städtisch geprägten Leben an" (148). Wenige Jahre später, in der von Bätzing so bezeichneten "Postmoderne" seit den 1990er Jahren, seien die funktionalistischen Vorstellungen vom Landleben und die "fundamental[e]" (154) Modernisierung bereits wieder abgelehnt worden. Der nun stattfindende Bruch habe aber nicht zu einer Aufwertung des Landlebens, sondern nur zu seiner weiteren Aushöhlung beigetragen. Denn das Landleben sei zu einer von vielen Optionen geworden, zu einem Konsumprodukt. Dort, wo es noch existiere, werde es immer mehr idealisiert und als absolutes Gegenmodell zur modernen Welt verklärt.
Das Ergebnis des Buchs (ebenso wie die These, mit der er die Untersuchung beginnt) lautet, "dass das Landleben auch weiterhin unverzichtbar ist" (221). Nach rund zweihundert Jahren, in denen der ländliche Raum immer nur entwertet und geschwächt worden sei, müsse er nun wieder aufgewertet werden. Eine große Revolution fordert Bätzing jedoch nicht. Er will gerade niedrigschwellige Veränderungen anregen, die das System nicht insgesamt in Frage stellten, aber doch dazu beitrügen, "das spezifisch ländliche Leben und Wirtschaften zu stärken" (250). Regionale und ländliche Identitäten sollten aktiviert werden, so dass die Landbewohnerinnen und -bewohner selbstorganisiert strukturelle Defizite auf dem Land ausgleichen könnten. So solle die Ausweitung von "Zwischenstadt-Strukturen" abgeschwächt werden.
Was aber versteht Bätzing eigentlich unter dem Land, dem Landleben und dem ländlichen Raum? Er greift auf die Definition der OECD zurück und bestimmt entsprechend ländliche Räume über ihre Bevölkerungsdichte. Allerdings steht neben diesem vermeintlich objektiven Bewertungsmaßstab auch noch ein anderer. Denn das Landleben, das in Bätzings Schilderung doch im Vordergrund steht, wird nicht quantitativ, sondern qualitativ bestimmt. Das Landleben unterscheide sich durch eine größere Naturnähe, geringere Arbeitsteilung und eine größere soziale Nähe vom Stadtleben. Doch handelt es sich tatsächlich in Bätzings Argumentation nur um ein Mehr oder Weniger? Der Autor betont selbst, dass Stadt und Land nicht als Gegensatzpaar verstanden werden dürften, dennoch folgt er einer starken Polarität, die noch dazu hochnormativ ist. Während in der Stadt die Natur nur als Ressource begriffen werde, seien sich die Menschen auf dem Land ihrer Vernetzung mit der Natur bewusst. Während die Städter nur durch kurzfristige wirtschaftliche Erwägungen handeln würden, sei die Landbevölkerung durch ihr Landleben nachhaltig: Produktion und Reproduktion stünden in einem engen Zusammenhang, die Beschäftigten könnten sich mit ihren Produkten noch "identifizieren und stolz darauf sein" (223). Und so geht es weiter: die Großstadt als Hort von menschenverachtendem Kapitalismus, Materialismus und sozialer Kälte, das Land als Gegenentwurf dazu, wo die Gemeinschaft noch funktioniere. Die Gefahr bestehe nun darin, dass die Menschen auf dem Land sich die Mentalität der städtischen Bevölkerung aneigneten. Denn dann funktioniere das Landleben nicht mehr, weil die geringe Arbeitsteilung, geringe infrastrukturelle Erschließung etc. nur noch ein Mangel, nicht aber eine Ermöglichung anderer Sozialformen sei. Das führt schließlich dazu, dass der Autor auch zwischen einem echten und einem lediglich imitierten Landleben unterscheidet (etwa Folklore oder Ländlichkeit als Konsumgut).
Wie auch bei anderen räsonierenden Sachbüchern stellt sich die Frage, an welches Publikum dieses Buch eigentlich gerichtet ist. Einen wirklichen Debattenbeitrag stellt es nicht dar, weil andere Auffassungen vom Land abqualifiziert werden. Auch werden wichtige Kontexte, die für die Frage des ländlichen Raums in der Gegenwart von Bedeutung sind, ausgeklammert, z.B. die Klimafrage. Die Fokussierung auf Deutschland ist ebenfalls nicht hilfreich, um eine wirklich komplexe Sicht auf den ländlichen Raum zu entwickeln. So ist das Buch aufgrund der genannten Defizite weder eine wirkliche Einführung in die Herausforderungen ländlicher Raumentwicklung noch ein Beitrag zu einer pluralen Debatte. Was es eigentlich sein will, bleibt ein Rätsel.
Historikerinnen und Historiker gehören offenbar auch nicht zum angedachten Publikum, und für die historische Arbeit ist auch die von Bätzing vertretene dichotome Beschreibung von Stadt und Land mit ihrem zivilisationskritischen Grundton wenig hilfreich. Für die Geschichtswissenschaft ist es viel sinnvoller, das Konzept von Ländlichkeit selbst zu historisieren, um gerade die historische Wandelbarkeit in den Blick nehmen zu können. Stadt und Land, städtisches Leben und ländliches Leben sind keine Gegensätze, sondern eng aufeinander bezogen, voneinander abhängig. Methodisch gewendet heißt das: die Geschichte des ländlichen Raums kann nicht ohne den städtischen Raum geschrieben werden, vor allem aber auch umgekehrt: Gesellschaftsgeschichte (nicht nur der Moderne) muss immer auch den ländlichen Raum mit einbeziehen, um nicht wichtige Bezüge auszuklammern. All dies ist ohne einen essentialistischen Blick auf den ländlichen Raum möglich. Allerdings beraubt eine solche Herangehensweise uns der Möglichkeit, einen ländlichen Raum von der Sesshaftwerdung des Menschen bis ins 21. Jahrhundert zu beschreiben. Ob das jedoch ein Verlust ist, wage ich zu bezweifeln.
Anette Schlimm