Robert Grünbaum / Jens Schöne / Heike Tuchscheerer (Hgg.): Revolution! 1989 - Aufbruch ins Offene, Berlin: Metropol 2020, 277 S., ISBN 978-3-86331-538-2, EUR 22,00
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Im Mittelpunkt des Buches steht das Jahr 1989 in seiner transnationalen und europäischen Dimension. Dabei sind drei Bezugsebenen auszumachen: 1) die historische Dimension und die Frage nach der Bedeutung der historischen Ereignisse von 1989/90 aus einer transnational vergleichenden Perspektive, 2) die erinnerungskulturelle Dimension und die Frage nach den Erinnerungspolitiken in den verschiedenen post-sozialistischen Ländern sowie 3) die politische Dimension und die Frage nach der Bedeutung von 1989/90 insbesondere für politische und gesellschaftliche Prozesse, die mit Begriffen wie "Populismus" und "Autoritarismus" zu fassen sind. Entlang dieser drei Dimensionen beschäftigt sich das Buch mit dem Erbe von 1989. Der Referenzrahmen ist jedoch nicht der deutsche oder osteuropäische Kontext, sondern Europa als ein eigenes, historisch gewachsenes, sich veränderndes politisches System.
Dabei scheint die Feststellung des tschechischen Historikers Michal Kopeček "Das Heute verändert unsere Vorstellung vom Gestern" (57) auch in den anderen Aufsätzen mitzuschwingen. Eindeutigkeiten oder Einigkeit sucht man vergebens. Vielmehr dominiert die Heterogenität der Perspektiven und Zugriffe. Es dominieren eher Fragen (als Antworten) und Beobachtungen (anstatt abschließender Beurteilungen). Dies verweist auf Veränderungen im Erinnerungsdiskurs, die in den letzten fünf bis zehn Jahren zu beobachten sind. Die Meistererzählung von 1989 als Erfolgsgeschichte und Siegeszug der liberalen Demokratie, wie sie zumindest im deutschsprachigen Kontext zum 20. Jahrestag 2009 noch dominierte, hat angesichts der Debatten um die Kosten der Transformation und des wachsenden Einflusses von rechtspopulistischen Kräften an Legitimität verloren. [1]
Das Buch ist das Ergebnis von zwei Veranstaltungen, die anlässlich des 30. Jahrestags von 1989 in Berlin stattfanden. Veranstaltet wurden die Tagung "1989-2019: Die Revolutionen in der DDR und in Ostmitteleuropa - globale Entwicklungen und Perspektiven" vom März 2019 sowie die sich anschließende Veranstaltungsreihe "Revolution! 1989 - Aufbruch ins Offene" durch den Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Bundesstiftung Aufarbeitung sowie die Deutsche Gesellschaft eingetragener Verein.
Der Titel des Buchs knüpft an die Veranstaltungsreihe an, und der Begriff "Revolution" wurde auch hier mit Ausrufezeichen prominent platziert. Dabei wird gerade dieser Begriff in den Beiträgen durchaus kontrovers diskutiert. Die Debatte darüber, ob 1989 eine Revolution war oder nicht, ist fast so alt wie das Ereignis selbst. Gerade der transnationale Vergleich macht deutlich, so Joachim von Puttkamer, wie wenig "Revolution" zur Beschreibung der Ereignisse Verwendung findet und wie gering seine erinnerungskulturelle Integrationskraft ist. Zudem, so der Jenaer Historiker in seinem Beitrag weiter, hat die Diskussion um den Begriff keineswegs nur eine historisch-analytische, sondern vor allem eine politische Dimension: "Die Deutung des Jahres 1989 liegt im Kern des politischen Selbstverständnisses" (202) von aktuellen politischen Akteuren in Polen und Ungarn, aber auch im Osten der Bundesrepublik. Mit 1989, das zeigen auch jüngere Forschungen an anderer Stelle, werden unmittelbar Fragen um die Legitimität und Illegitimität politischer Positionen und Handlungen verknüpft, die Vergangenheit wird aktualisiert und für politische Legitimationen genutzt oder gar instrumentalisiert. [2]
Mit Beiträgen wie der vergleichenden Analyse des Zusammenbruchs des osteuropäischen Staatssozialismus (Klaus Gestwa), der Frage, ob 1989 ein gemeinsamer europäischer Erinnerungsort ist (nein!, aber ...) (Ralph Jessen) und der genauen Beobachtung der Verschränkung von Politik, Medien und Geschichtskultur beim Erstarken von Populismus und neuen Autoritäten (Julia Obertreis) bietet der Band eine Reihe anregender Beiträge, die historische Fragen mit Gegenwart verbinden. In seiner Gesamtanlage hat das Buch allerdings einen, dem Format als Tagungsdokumentation geschuldeten, eher explorativen Charakter. Was im Mündlichen gut funktionieren mag - das Nebeneinander von Positionen, die Thesenhaftigkeit mancher Beiträge, das Explorative -, weil im Anschluss immer das Angebot zur Auseinandersetzung folgt, funktioniert in der gedruckten Version nur bedingt. Hier wäre eine stärkere Systematisierung und inhaltliche Strukturierung sowie eine rahmende Klärung zentraler Begriffe und Bezugsfelder hilfreich gewesen.
Gleichwohl ist es ein Verdienst des Buches, (in einigen Beiträgen) 1989 und (Gesamt-)Europa in seinen wechselseitigen Bezügen und Verschränkungen zu diskutieren und die (nach wie vor häufige) Konzentration auf nationale Kontexte aufzubrechen. Besonders anregend sind die Beiträge daher dort, wo die Autoren und Autorinnen die Verhältnislage mit Fokus auf Europa ausloten, hat sich mit 1989 und der sogenannten Osterweiterung doch der gesamte Bezugsrahmen von Europa (als politischem Gebilde und Symbol) verändert und verschoben. Die Frage "Wohin geht es mit Europa?", die der Historiker Ulrich Herbert in seinem Beitrag aufruft, ist also keine rhetorische, sondern zielt auf den Kern dieser dialektischen Beziehung. Eine Standortbestimmung von "Europa und 1989" ist notwendig, um historisch bedingte Veränderungen zu erkennen, die wechselseitige Bezogenheit der Mitgliedstaaten zu reflektieren und Konfliktlinien in der Gegenwart in ihrer Komplexität zu verstehen.
Anmerkungen:
[1] Siehe dazu jüngst die Beiträge in den beiden Bänden 2020 und 2021 des Jahrbuchs Deutsche Einheit, hgg. von Marcus Böick / Constantin Goschloer u.a.
[2] Vgl. Greta Hartmann / Alexander Leistner: Umkämpftes Erbe. Zur Aktualität von "1989" als Widerstandserzählung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (2019), 35-37, 18-24.
Anna Lux