Hedwig Röckelein (Hg.): Der Gandersheimer Schatz im Vergleich. Zur Rekonstruktion und Präsentation von Kirchenschätzen (= Studien zum Frauenstift Gandersheim und seinen Eigenklöstern; Bd. 4), Regensburg: Schnell & Steiner 2013, 375 S., 74 Farb-, 82 s/w-Abb., ISBN 978-3-7954-2638-5, EUR 69,00
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Bruno Reudenbach / Gia Toussaint (Hgg.): Reliquiare im Mittelalter, Berlin: Akademie Verlag 2005
Till Busse: Madonna con Santi -Studien zu Domenico Ghirlandaios mariologischen Altarretabeln : Auftraggeber, Kontext und Ikonographie. http://kups.ub.uni-koeln.de/volltexte/2003/486/, Köln: Universitätsbibliothek Köln 2003
Bernd Carqué / Hedwig Röckelein (Hgg.): Das Hochaltarretabel der St. Jacobi-Kirche in Göttingen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005
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Die Frontispiz-Abbildung bringt das Thema des Bandes auf den Punkt: Die Fotografie zeigt den Speicher über dem nördlichen Seitenschiff der Gandersheimer Stiftskirche, in dem neben bauplastischen Fragmenten, ausrangierten Stühlen und allerlei Gerümpel die Archivkästen aufgestapelt sind, in denen der Kirchenschatz verwahrt worden war. Dieser war zum Zeitpunkt der Aufnahme schon geplündert, Zerstörungen und Verkäufe nach der Reformation haben den einstmals reichen Schatz der Kanonissinnen dezimiert, einige der verbliebenen kunsthistorisch bedeutsamen Stücke gelangten nach der Säkularisation in das Braunschweiger Herzog Anton Ulrich-Museum. Renate Kroos musste bei ihrer Inspektion des Schatzes noch tief graben, um zwischen "etwas glitschigen (Reliquien) Knochen" die Textilfragmente zutage zu fördern, die ihr aus kunsthistorischer Sicht besonders ertragreich schienen [1].
So ist das Konzept "unscheinbare Exponate ernst zu nehmen und zu kontextualisieren" (329), das Martin Hoernes im letzten Beitrag zur Präsentation des Gandersheimer Schatzes skizziert, nicht nur dem fragmentarischen Bestand geschuldet. Es macht sich ebenso den Umstand zu nutze, dass das scheinbar Wertlose ganz neu in den Fokus gerückt ist, seitdem in der Kunstgeschichte intensiv über Ding- und Objektkategorien nachgedacht wird: Reliquien, Reste, Zeugs, um die schöne Bezeichnung Peter Geimers zu verwenden, eben das, was der früheren Forschung nicht relevant, geschweige denn den Museen präsentabel erschien. Das sogenannte Salvatortüchlein aus dem 9. Jahrhundert ist so ein Fall, denn Annemarie Stauffer gelingt es, plausibel zu machen, dass dieses Leinengewebe keine Hülle für Reliquien, sondern als Tuchreliquie selbst ein Heiltum war, das mit großer Wahrscheinlichkeit zu den ältesten Stücken des Stifts gehörte und bereits anlässlich der Gründung erworben worden war.
Der Band ist das Ergebnis einer Gemeinschaftsarbeit des von Hedwig Röckelein geleiteten Forschungsprojekts zum "Frauenstift Gandersheim" und des Ausstellungsprojekts "Portal zur Geschichte", das die in Gandersheim verbliebenen Reste des Schatzes der Öffentlichkeit wieder zugänglich macht. In vier Hauptteile gruppiert nehmen die Beiträge das Phänomen der Kirchenschätze, ihre Rekonstruktion, Restaurierung und Konservierung sowie ihre Revitalisierung in den Blick, zeichnen mithin typische Phasen zwischen Schatzbildung und Schatzverlust (Schenkung und Thesaurierung, Beraubung und Zerstörung, Umdeutung und Musealisierung) nach.
Aus vergleichender Perspektive nähert sich der erste Teil mit Beiträgen zu den Reliquien der Lüneburger Goldenen Tafel (Thorsten Henke), zum Schatz des Benediktinerinnenklosters Lamspringe (Renate Oldermann) und zum Konstanzer Domschatz (Melanie Prange) heute weitgehend verlorenen Schätzen. Hier geht es weniger um konkrete Abhängigkeiten von der zuvor erfolgten Bestandsaufnahme des Gandersheimer Heiligenhimmels (Christian Popp), instruktiv sind die Beiträge vielmehr aus methodischer Sicht, weil sie zeigen, wie eine sorgfältige Inspektion der Quellen das Ensemble der Schätze und ihre frömmigkeitsgeschichtlichen Kontexte wieder anschaulich werden lässt. Als Zeugnisse des Sammelns und des Verlusts zeichnen Inventare, Weiheinschriften und Stiftungsurkunden nicht nur deren Entwicklungsgeschichte nach, sie geben auch Auskunft über lokale Schwerpunkte der Heiligenverehrung sowie über die damit verbundenen religiösen Interessen und politischen Allianzen von Stift und Stiftern.
Im einleitenden Beitrag dieses Teils thematisiert Klaus Gereon Beuckers die Beziehung von Schatz und Stiftung. Über die zweifellos zutreffenden Überlegungen zur spirituellen Funktion der Schatzstücke hinaus, die Beuckers im Rahmen der liturgischen Memoria und im juristischen Zusammenhang von fundatio und donatio verortet, vermisst man hier jedoch einen Bezug zu den Forschungen, die den Schatz als eigene Forschungskategorie neu entdeckt haben. Eine Reihe von Studien und Sammelbänden der letzten Jahre haben das dichte Beziehungsgeflecht ökonomischer und symbolischer Wertschöpfungen in den Blick gerückt und die Bedeutung der materiellen Kultur für die Ausprägung wirkmächtiger Sinnproduktion beschrieben.[2] Als Objekt-Ensemble zeichnen sich Schätze generell durch eine heterogene Zusammensetzung aus, die so ungefähr alles umfasst, was sich zwischen Reliquien, Mirabilien und Geschmeide denken lässt. Auch wenn einzelne Stücke oftmals veräußert, eingeschmolzen oder umgearbeitet wurden, bezog der Schatz seine Bedeutung nicht primär aus Kriterien des Materialwerts oder der Ästhetik, sondern aus semantischen Zuschreibungen. Der Schatz als System, seine Funktion innerhalb der Heils- und Tauschökonomie und seine Bedeutung als Projektionsfläche kollektiver Selbstdeutungen hätten hier stärker akzentuiert werden können, zumal seine Macht als Zeichen und als Imagination zwischen den Polen von Gebrauch, Sichtbarkeit und Anwesenheit taxiert werden kann.
Dementsprechend sind die folgenden Beiträge als exemplarische Fallstudien zu verstehen, die noch im Schatz verbliebene, verlorene und verstreute Objekte und Objektgruppen vorstellen. Die Untersuchungen zur schon angesprochenen Tuchreliquie und zur nur noch urkundlich fassbaren Gandersheimer Madonna (Anna Pawlik) bleiben noch nah am titelgebenden Forschungsgegenstand des Schatzes. Sie tragen zur Rekonstruktion des Ensembles aus Heiltümern und Bildwerken bei bzw. zeigen anhand der Braunschweiger Stücke, wie liturgisches Gerät im Zuge der Musealisierung zu Schatzkunst umgewidmet wurde, auch wenn dies beileibe kein zwangsläufiger Prozess war, wie Regine Marth am Zeugnis der Erwerbungsakten deutlich machen kann. Christine Wulf greift zur inschriftlichen Überlieferung des Stifts und seiner Eigenklöster Brunshausen und Clus weit über die Schatzkammer hinaus, doch gelingt es ihr, plausibel zu machen, wie schon im Jahrhundert zuvor ein Bedeutungswandel einsetzte, der Heiltümer in "wertvolle und repräsentative Zeugnisse der eigenen traditionsreichen Geschichte" (204) transformierte. Die Studien zur Schnitzfigur des heiligen Georg in der Gandersheimer Georgskirche (Jan Friedrich Richter) sowie zu den barocken Wandmalereien und Gemälden in Sommerschloss (Maria Julia Hartgen) und Abtei (Inke Beckmann) hingegen, so ertragreich sie für die Geschichte des Stiftes auch sind, vermögen zum Thema des Schatzes nur wenig beizutragen.
Das Problem setzt sich in dem Teil des Bandes fort, der Aspekte der Restauration und Konservierung in den Blick nimmt. Die Beiträge zu den in Brunshausen aufgefundenen Glasmalereifragmenten (Elena Kozina und Simone Schmidt) sowie zur Restauration der Textilien und Reliquien, die im Kopf der Madonnenfigur aus Bilshausen aufgefunden wurden (Susanne Michels), bieten aufschlussreiche Anhaltspunkte für weitere Analysen, thematisch integriert sind sie jedoch nicht. Spätestens hier zeigt sich eine konzeptionelle Schwäche des Bandes, denn offenbar wurde versäumt, sich im Vorfeld auf eine Definition zu verständigen, was genau unter einem Schatz zu verstehen ist. Eine funktionale oder gattungsspezifische Differenzierung zwischen Heiltum und Bildwerk, mobilem Schatzgerät und wandfester Ausstattung findet, man muss es leider so deutlich sagen, an keiner Stelle statt und auch der Wandel durch die Epochen der Stiftsgeschichte, die dem Phänomen des Schatzes mit ganz anderen Narrativen begegnen, bleibt farblos.
Allemal entschädigt wird man jedoch durch den Beitrag von Hartmut Kühne, der - schwungvoll vorgetragen und vergnüglich zu lesen - die Wahrnehmung von Wundern sowie mit Mirakeln verbundene Bildobjekte nach der Reformation beschreibt. Wir kennen die Reformation als Zeitalter des Bildersturms und der Bildkritik. Dass aber zur gleichen Zeit wundertätige, nämlich schwitzende und weinende Lutherbilder sowie brandresistente Reformationsschriften existierten, darf nicht als altgläubiges Relikt verstanden werden. Vielmehr plädiert Kühne für ein Verständnis der Wundererzählungen, die von einer Kommunikationsgelegenheit mit Gott berichten und daher auch eine objektzentrierte Memoria zum beharrlichen Andencken (295) weiter tradierten.
Am Schluss des Bandes greifen zwei Beiträge das Bezugsfeld von Schatz und Kunst und den damit verbundenen Bedeutungstransfer aus museologischer und sammlungsgeschichtlicher Perspektive wieder auf. Das neue Interesse an sakraler Kunst und Kirchenschätzen, das sich in einer Vielzahl von Ausstellungsprojekten sowie der neu geordneten Präsentation noch weitgehend intakter Schatzensembles niederschlägt, war auch für das Gandersheimer "Portal zur Geschichte" prägend. Martin Hoernes beschreibt das chronisch unterfinanzierte Projekt einer Dauerausstellung, die ohne einen Trägerverein engagierter Bürger nicht möglich wäre. Wie nebenbei zeigt sich hier, wie der Schatz noch heute Identität binden kann. Jörg Richter beleuchtet anhand des Kölner Museums Kolumba und dem Halberstädter Domschatz die Chancen und Risiken, die sich aus der privilegierten Präsentation autonomer Einzelwerke im White Cube des modernen Kunstmuseums und der historischen Kontextualisierung gewachsener Schatzensemble im ursprünglichen Bauzusammenhang ergeben.
Die angesprochenen konzeptionellen Mängel sollen nicht den Wert der einzelnen Forschungen schmälern. Die Beiträge sind durchweg inhalts- und kenntnisreich verfasst und bieten eine reiche Materialbasis zu Geschichte und Ausstattung des Gandersheimer Stifts. Wünschenswert wäre ein Katalog der erhaltenen und zugeschriebenen Objekte gewesen, der es erlauben würde, sich jeweils im größeren Zusammenhang des Schatzes zu orientieren. Ein solcher Objektkatalog wird, wie Hoernes anmerkt, zurzeit erstellt und soll über das Internet verfügbar werden. Darauf darf man gespannt sein.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Renate Kroos: Otia Gandersheimensia sacra, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 47 (1984), 237-242.
[2] Vgl. etwa Sauro Gelichi / Cristina La Rocca (a cura di): Tesori. Forme di accumulazione della ricchezza nell'alto medioevo, Rom 2004; Thomas Kühtreiber (Hg.): Vom Umgang mit Schätzen, Wien 2007; Lucas Burkart: Das Blut der Märtyrer. Genese, Bedeutung und Funktion mittelalterlicher Schätze, Köln / Weimar / Wien 2009; Lucas Burkart / Philippe Cordez / Pierre Alain Mariaux (éd.): Le trésor au Moyen Âge. Discours, pratiques et objets, Florenz 2010.
Viola Belghaus