Dietmar Schiersner / Hedwig Röckelein (Hgg.): Weltliche Herrschaft in geistlicher Hand. Die Germania Sacra im 17. und 18. Jahrhundert (= Studien zur Germania Sacra. Neue Folge; 6), Berlin: De Gruyter 2018, XIII + 510 S., 20 Abb., ISBN 978-3-11-055414-4, EUR 139,95
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Nachdem geistliche Herrschaft in der historischen Forschung jahrzehntelang praktisch kein Thema war, ist sie seit etwa zwanzig Jahren - der Zusammenhang mit dem "Jubiläum" von 1802/03 liegt auf der Hand - aus unterschiedlichen Perspektiven Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Tagungen, akademischer Qualifikationsschriften und einer blühenden Aufsatzliteratur. Der anzuzeigende Band beruht auf einer im Oktober 2015 veranstalteten Tagung des Göttinger Akademieprojekts Germania Sacra, bei der es darum ging, über das Einzigartige und die Eigenart weltlicher Herrschaft in geistlicher Hand weiter und neuerlich nachzudenken (12). In dreizehn auf der Tagung gehaltenen Vorträgen und drei zusätzlich eingeworbenen Aufsätzen, gegliedert nach vier thematischen Blöcken, werden zum einen die zentralen Aspekte geistlicher Staatlichkeit und Ökonomie einmal mehr erörtert, zum anderen derzeit diskutierte Fragen der allgemeinen Frühneuzeitforschung mit solchen der Germania Sacra korreliert, und in drei Beiträgen kommt auch die sonst eher stiefmütterlich behandelte evangelische Germania Sacra zur Sprache.
Einleitend skizzieren die Herausgeber das mit ihrer Tagung und dem Buch intendierte Anliegen und fassen für jeden der dazu beigesteuerten Aufsätze die projektbezogene Quintessenz zusammen. Anschließend beschreibt Bettina Braun auf der Basis ihrer 2013 publizierten Habilitationsschrift geistliches Profil und weltliches Selbstverständnis am Beispiel nordwestdeutscher Kirchen- und Reichsfürsten in der Zeit nach 1648. Beide Pole standen zueinander in einem komplexen Spannungsverhältnis, das naturgemäß stark abhängig war von der jeweiligen Persönlichkeit, ihrer Sozialisation sowie vielerlei Voraussetzungen ihrer Entfaltung. Voreilige Verallgemeinerungen verträgt ein diesbezügliches Urteil so wenig wie eine anachronistische Perspektive.
Der erste thematische Block gilt - weshalb wurde Bettina Brauns personenbezogene Studie nicht hier sortiert? - Personen und Strukturen. Zunächst veranschaulicht Rainald Becker, wie zumal in süddeutschen Reichsabteien Bürger- und Bauernsöhne in den Prälatenstand und so mitunter sogar zu fürstlichem Rang aufsteigen konnten, während die wohldotierten Bistümer so gut wie ausschließlich den Sprösslingen adliger Familien vorbehalten blieben; gelegentliche Ausnahmen finden sich allein in den bayerischen und österreichischen Mediatbistümern. Marian Füssel fragt nach Bischöfen und Fürstbischöfen als Freimaurern im 18. Jahrhundert. Verglichen mit einer beachtlichen Zahl von Dom- und Stiftsherren, Priestern und Ordensleuten als Mitgliedern von Logen, scheint ein entsprechendes Engagement höherer Prälaten deutlich seltener vorgekommen zu sein, jedoch ist hier bei der Quantifizierung Vorsicht geboten, weil aus "politischen" Gründen mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen ist. Als Motive für den Beitritt zu Logen sind intellektuelle Sinnsuche vorstellbar, daneben der Wunsch nach Geselligkeit unter Überwindung von Standesschranken, aber auch soziale Kontrolle und familiäre Verflechtung. Der Vergleich, den Teresa Schröder-Stapper am Beispiel von Herford (ev.), Quedlinburg (ev.) und Essen (kath.) anstellt, verdeutlicht, wie schwierig es ist zu bestimmen, was ein "kaiserlich frei-weltliches Damenstift" in der frühen Neuzeit ausmachte und wie sehr vormoderne Herrschaft sich in der Verflechtung von Religion und Politik ausdifferenzierte. Die vielfach zu beobachtenden Personalunionen auf Bischofsstühlen in der frühen Neuzeit und ihre Bedeutung für die Reichspolitik exemplifiziert Winfried Romberg am Hochstift Würzburg. Und Wolfgang Wüst würdigt das Selbstverständnis sowie die Aufgaben und Leistungen von Fürstbischöfen in ihrer Rolle als Kreisstände.
Die zweite thematische Gruppe widmet sich Sonderformen und Neuinterpretationen. Die evangelischen Hoch- und Erzstifte Naumburg(-Zeitz) und Magdeburg werden von Matthias Ludwig und Andrea Thiele als geistliche "Staaten" vorgestellt, in denen geistliche Herrschaft im Grunde in weltlicher Hand lag und die traditionelle Hülle oder was von ihr blieb letztlich nur noch dazu diente, unter gewandelten Verhältnissen hergebrachte Gerechtsame und Ansprüche so gut es ging zu bewahren, die einstige Reichsunmittelbarkeit freilich ging mit dem Westfälischen Frieden verloren. Eine Rolle ganz eigener Art spielte, wie von jeher, der Deutsche Orden (Dieter J. Weiß), der zwar im wesentlichen altgläubig blieb, in seinen Balleien Hessen und Thüringen aber auch lutherische und reformierte Ordensritter aufnahm. Mit seinen spezifischen Organisationsformen und seiner engen Verbindung zum Kaiserhaus blieb der Orden in der Germania Sacra ebenso wie in der Verfassung des Alten Reiches immer etwas Besonderes. Sascha Weber veranschaulicht am Beispiel des Erzstifts Mainz und seiner Schul- und Ordenspolitik sowie seiner Armenfürsorge, wie wenig rückständig ein großer geistlicher Staat zur Zeit von Aufklärung und Episkopalismus sein konnte. Indes: Wie berechtigt ist überhaupt der gegenüber geistlicher Herrschaft immer wieder erhobene Vorwurf der Rückständigkeit verglichen mit gleichzeitiger weltlicher Herrschaft?
Der etwas heterogene Themenblock 'Recht und Ökonomie' verbindet einen Beitrag über Hexenverfolgungen in der frühneuzeitlichen Germania Sacra (Gerd Schwerhoff) mit zwei weiteren über Finanzen und Wirtschaft in der Fürstabtei Kempten (Gerhard Immler) und im Fürstbistum Münster (Wilfried Reininghaus), und schließlich verknüpft unter dem Gruppentitel 'Musik und Kunst' Peter Hersche die Agrikultur mit der Musikkultur, außerdem beleuchten Andreas Waczkat und Meinrad von Engelberg die Repräsentationskultur geistlicher Herrschaft auf den Gebieten der Musik und der Architektur. Dass die geistlichen Territorien im 16. und 17. Jahrhundert "tendenziell Hochburgen der Hexenverfolgung [waren und] im reichsweiten Vergleich weit überproportionale Opferzahlen aufzuweisen hatten" (323) ist ganz gewiss alles andere als ein Ruhmesblatt für die Herrschaft der Prälaten. Die Leistungsbilanz auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet vermag diese böse Scharte zwar nicht auszuwetzen, gibt aber doch das bemerkenswerte Potential zu erkennen, das geistlicher Herrschaft in der frühen Neuzeit grundsätzlich innewohnte.
In summa: Dieses Buch bietet eine anregende Mischung aus bereits Bekanntem und Neuem; der besseren Kenntnis eines vergangenen Phänomens, das mit vielerlei Relikten in die Gegenwart hineinragt, ist es allemal zuträglich. Wünschenswert und eigentlich längst überfällig erscheint mir jedoch der Blick über den geistlichen Tellerrand hinaus, das heißt ein direkter, multiperspektivischer Vergleich zwischen geistlicher Herrschaft einerseits und weltlicher Herrschaft andererseits im Herbst des Alten Reiches, ein Vergleich von Leistungen und Defiziten hier und dort. Nach wie vor bin ich überzeugt, dass bei einem solchen Vergleich, der freilich jenseits der ausgetretenen Pfade eine sehr breit angelegte Grundlagenarbeit erfordert, die geistliche Herrschaft insgesamt kaum schlechter abschneiden würde als die weltliche. Den Band beschließt ein Register der Orts- und Personennamen. Dass Standespersonen darin zwar via Verweisung auch nach ihren Familien- beziehungsweise Herkunftsnamen auffindbar, im übrigen aber unter ihren Taufnamen sortiert sind, erscheint der frühneuzeitlichen Thematik wenig angemessen.
Kurt Andermann