Berna Pekesen: Nationalismus, Türkisierung und das Ende der jüdischen Gemeinden in Thrakien. 1918-1942 (= Südosteuropäische Arbeiten; 145), München: Oldenbourg 2012, 334 S., ISBN 978-3-486-70715-1, EUR 44,80
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Es ist ein weithin bekannter Topos, dass jüdische Gemeinden im Osmanischen Reich und später in der Republik Türkei eine vergleichsweise unbedrohte Existenz führen konnten. Die Aufnahme von sephardischen Juden ins Osmanische Reich nach der Reconquista ist in diesem Zusammenhang das vielleicht bekannteste Beispiel. [1] Seither wurde seitens der türkischen und auch der jüdischen Historiographie das Bild einer freundschaftlichen Beziehung zwischen "Türken und Juden" gepflegt. Der aktuelle politische Bruch zwischen Israel und der Türkei wurde häufig in der internationalen Medienlandschaft, aber auch seitens der jeweiligen Regierungen, als eine Wende in einer sonst eher konfliktfreien "jüdisch-türkischen" Beziehungsgeschichte gedeutet.
Dass dem nur bedingt so war und die Beziehungsgeschichte nicht immer diesen Topoi entsprach, legt Berna Pekesen mit der Untersuchung eines "unangenehmen Aspektes" (14) der türkisch-jüdischen Beziehungsgeschichte dar. Schon die verdienstvolle Untersuchung von Corry Guttstadt zur ambivalenten Politik der türkischen Regierung während des Holocausts konnte einige der bislang unhinterfragt angenommenen Geschichtsbilder dekonstruieren. [2] Die Arbeit von Berna Pekesen setzt gewissermaßen thematisch hier und zeitlich ein wenig früher an, in dem sie das Pogrom [3] von Thrakien 1934 und das dortige Ende der jüdischen Gemeinde untersucht.
Pekesens Monographie ist eine überarbeitete Version ihrer Dissertation, die sie im Jahr 2008 unter der Betreuung von Fikret Adanir an der Ruhr-Universität Bochum eingereicht hat. Die Monographie nimmt die ereignishistorische Darstellung der gewalttätigen Übergriffe seitens der muslimisch-türkischen Bevölkerung gegenüber der jüdischen Gemeinde Thrakiens im Sommer 1934 als Ausgangspunkt ihres Narrativs und arbeitet anhand dessen die Entwicklungen heraus, die zum Ende der jüdischen Gemeinde in Thrakien - eine Region, in der vergleichsweise viele Juden lebten - führten. Die ereignisgeschichtliche Rekonstruktion dieses Pogroms, die aufgrund der mangelnden Quellenlage nur bedingt möglich sei, stellt Kapitel I der Monographie dar (38-54). Im Folgenden legt die Autorin ihre Methodik dar: Pekesen arbeitet vor allem mit einer heuristischen Vorgehensweise die Umstände heraus, die diese Ereignisse strukturell ermöglichten, in dem sie das Beziehungsgefüge von Modernisierung, Nationsbildung und Gewalt expliziert. Richtig macht sie auf den Umstand aufmerksam, dass eine solche Herangehensweise die Gefahr eines teleologischen Geschichtsverständnisses birgt; von diesem distanziert sie sich offen und setzt sich das Ziel, einzig die Rahmenbedingungen darstellen zu wollen (55-95). In Kapitel III bettet sie ihren Forschungsgegenstand in die Geschichte der jüdischen Gemeinden im Osmanischen Reich von der Frühneuzeit bis ins frühe 20. Jahrhundert ein und skizziert die Entwicklung von einer weitestgehend tolerierten zu einer exkludierten Religionsgruppe im Zuge der Modernisierung und Nationalisierung (96-128). Der Nationalisierungspolitik, insbesondere der kemalistischen Minderheiten- und Bevölkerungspolitik, widmet sich Pekesen ausgiebig in den drei Kapiteln IV bis VI (129-266).
So bettet Pekesen das Pogrom von Thrakien in die Nationalisierungs- bzw. Türkisierungspolitik der frühen Republik ein und zeichnet sehr elaboriert und anschaulich die Siedlungs-, Migrations- und Bevölkerungspolitik der Türkei in den 1920ern und 1930ern nach. Diese stellte ein Hauptinstrument der Türkisierungspolitik dar und sollte das demographische und ethnographische Ungleichgewicht in der Türkei zugunsten der türkischen Ethnizität korrigieren. Neben bilateralen und völkerrechtlich legitimierten Bevölkerungsaustauschen mit Nachbarstaaten bemühte sich die Regierung in Ankara auch landesweit um eine größtmögliche ethnische Homogenität und siedelte die eigene Bevölkerung innerhalb des Landes um. Hierdurch erhoffte sich Ankara, die muslimischen nicht-türkischen Ethnizitäten zu türkisieren (203-235). Ergänzt wurde diese Vorgehensweise durch strikte wirtschafts-, sprach- und bildungspolitische Maßnahmen mit dem dezidierten Ziel, ein neues, homogenes, modernes und vor allem "türkisches Volk" zu konstruieren (166-191). Das Verständnis des "Türkischen" der kemalistischen Republik war kein biologistisches, sondern ein auf Zugehörigkeit ausgelegtes Prinzip: Wer türkisch sprach und sich als Türke bezeichnete, durfte auch Türke sein. Neben der bekundeten Zugehörigkeit zum "Türkischen" war das Bekenntnis zum Islam ebenfalls konstitutiv für das Staatsbürgerverständnis: Entgegen dem Laizismus-Prinzip des Kemalismus wurde der Islam als zentrales Integrationsmittel für die Kollektividentität gewählt. Allerdings verweist Pekesen nur in einem Halbsatz auf den durchaus wichtigen Umstand, dass es sich hierbei um die sunnitische Auslegung des Islam handelte und dass muslimische Minderheiten ebenfalls aus diesem Verständnis exkludiert wurden (238).
Während nicht-muslimische Religionsgruppen wie Armenier und Griechen per se als nicht "türkisierbar" galten, nahmen die jüdischen Gemeinden in der Türkei eine Art Sonderstellung ein. Denn anders als die anderen beiden größeren nicht-muslimischen Religionsgruppen in der Türkei waren die jüdischen Gemeinden oft darauf bedacht, ihre Loyalität zum türkischen Staat zu bekunden (191 ff.). Den Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs und die jüdischen Gemeinden verband die Erinnerung an eine lange Geschichte der osmanischen "Gastfreundschaft". Auch wenn diese Topoi zuweilen beschönigend und glorifizierend von beiden Seiten tradiert wurden, so ist nicht von der Hand zu weisen, dass jüdische Gemeinden im Osmanischen Reich von der Frühneuzeit bis ins frühe 20. Jahrhundert größtenteils über ihre Religionsgemeinschaft Autonomierechte besaßen. Die Loyalitätsbekundungen einiger Juden nahm zuweilen sonderbare Ausmaße an, wie z.B. die selbst vorgenommene Umbenennung des jüdischen Intellektuellen Mais Cohen zu dem sehr türkischen Namen Tekin Alp, um seiner erfolgreichen Türkisierung eine augenscheinliche Dimension zu verschaffen (116; 189). Trotz dieser Bemühungen sank das Ansehen der jüdischen Gemeinden in der Republik ab Mitte der 1920er und nahm spätestens in den 1930ern dezidiert xenophobe Ausformungen an. Auch kristallisierten sich antisemitische Tendenzen heraus, obgleich in ihrem Einflussradius eher peripher: So zum Beispiel die publizistischen Tätigkeiten von Cevat Rıfat alias Atilhan, dessen Blatt Millî İnkilap von Stürmer-Herausgeber Julius Streicher inspiriert und zuweilen auch finanziell unterstützt wurde. Es waren aber weniger antisemitische und biologistische Motive, als die wesentlich breiter rezipierten xenophoben Ressentiments gegen die jüdische Gemeinde, die Pekesen zufolge den ideellen Nährboden für das Pogrom von Thrakien bildeten (198 ff.). [4] Ungeklärt bleibe dabei die Involvierung der Regierung in Ankara in die Geschehnisse, die vor allem ab den 1930ern mit ihrer Minderheitenpolitik diese xenophoben Stereotypisierungen bediente. Ein wenig verdächtiger indes scheint die Rolle der Lokalverwaltung in Thrakien gewesen zu sein: In einem interessanten Bericht derselben sind eindeutig xenophobe Ansichten gegenüber der jüdischen Community zu erkennen, wie auch die formulierte Intention, gegen die jüdische Bevölkerung in Thrakien im Zuge der Türkisierungsbestrebungen vorzugehen (253 ff.). Auch wenn keine direkte Kausalverbindung zwischen den Ereignissen und dem Bericht gezogen werden kann, hält Pekesen eine bewusste Provokation der Ereignisse durch die Lokalverwaltung Thrakiens für durchaus denkbar (263). Nichtsdestotrotz war das eigentliche Ende der jüdischen Gemeinde in Thrakien nicht unmittelbar Ergebnis des Pogroms von 1934, sondern steht vielmehr in Verbindung mit der 1942 verabschiedeten Vermögenssteuer gegenüber der jüdischen Gemeinde: Diese diskriminierende Besteuerungspolitik entzog vielen jüdischen Familien die Lebensgrundlage und war mit größeren Migrationswellen verbunden, die letzten Endes, ebenso wie der Balkanfeldzug der Nationalsozialisten, das sogenannte Ende der jüdischen Gemeinde in Thrakien bedeuteten (176; 265).
Pekesens zu großen Teilen eloquent geschriebene Monographie arbeitet wichtige Aspekte der türkischen Nationalisierungspolitik auf. Insbesondere die elaborierten Darstellungen zur Siedlungs- und Bevölkerungspolitik beleuchten eine wichtige Dimension der nationalen Homogenisierungsbestrebungen, die weitreichende Folgen für die jüdische Minderheit nach sich zogen. Auch ihre heuristische Methodik dient der Erklärung der gewalttätigen Ereignisse in Thrakien im Zuge der türkischen Nationsbildung und Modernisierung. Während sie aber die Begriffe der Gewalt und Nation differenziert und in ihren verschiedenen Variationsmöglichkeiten anführt, fehlt dies für die Modernisierung, die recht unreflektiert als ein Oberbegriff für die Reformbemühungen des Osmanischen Reichs ab Mitte des 19. Jahrhunderts und später der Republik Türkei verstanden wird.
Obgleich die genannten Einbettungen für die Historisierung des Pogroms von Thrakien und des Endes der jüdischen Gemeinde zweckdienlich und auch notwendig sind, verliert sich die Arbeit aufgrund der Extensivität der Einbettungen häufig in Detaildarstellungen und mitunter die Hauptfragestellung aus den Augen. Der Leser hat zuweilen den Eindruck, eine Lektüre zur allgemeinen Siedlungs- und Türkierungspolitik der Republik vor sich zu haben und weniger eine Abhandlung zum Verschwinden der jüdischen Gemeinde in Thrakien. Vergegenwärtigt man sich jedoch, dass Pekesens Dissertation ursprünglich den schwer publizierbaren Titel "Migrationsbewegungen und Siedlungspolitik in der Türkei, 1923-1950 (mit bes. Berücksichtigung der jüdischen Gemeinden)" trug, überrascht dieser Umstand nicht. Auch erscheint in diesem Zusammenhang das gewählte Zeitinterwall von 1918 bis 1942 und die Wortwahl "das Ende der jüdischen Gemeinde in Thrakien" im Titel ein wenig befremdlich: Denn auf die 1942 erlassene Vermögenssteuer, die anscheinend nicht unwesentlich die Auswanderung der thrakischen Juden beeinflusste, geht Pekesen nur sehr kurz ein.
Trotz der benannten kompositorischen Schwierigkeiten ist der Verdienst dieser Arbeit zum einen den Topos einer durchgehend friedlichen Beziehungsgeschichte zwischen "Türken und Juden", in der Konflikte wenn überhaupt nur als "Betriebsunfälle" gedeutet wurden (14), zu dekonstruieren, ohne ihn deswegen gänzlich in Abrede zu stellen. Zum anderen beleuchtet die Arbeit elaboriert die Migrations- und Ansiedlungspolitik der kemalistischen Republik und leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Nationalismusforschung der frühen Republik Türkei.
Anmerkung:
[1] Für eine gute Überblicksdarstellung zu sephardischen Juden siehe: Aron Rodrigue: Sephardi Jewry: A History of the Judeo-Spanish Community, 14th-20th Centuries, Berkeley 2000.
[2] Corry Guttstadt: Die Türkei, die Juden und der Holocaust, Hamburg 2008.
[3] Pekesen verwendet trotz eigens formulierter Vorbehalte den Begriff des "Pogroms" für die thrakischen Ereignisse aufgrund ihrer antisemitischen Konnotation und aufgrund der Tatsache, dass andere Alternativen wie "Massenausschreitung, Krawalle oder ethnische Vertreibung weniger präzise" seien, 59 f.
[4] Die Differenzierung von Xenophobie und Antisemitismus wird von Pekesen als bekannt vorausgesetzt; allerdings wäre eine kurze Definition und Abgrenzung der beiden Begriffe sicherlich hilfreich gewesen.
Cem Kara