Eckhard Michels: Guillaume, der Spion. Eine deutsch-deutsche Karriere, Berlin: Ch. Links Verlag 2013, 416 S., 26 Abb., ISBN 978-3-86153-708-3, EUR 24,90
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Es war der spektakulärste Spionagefall in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Der Stasi-Agent Günter Guillaume schaffte es, 1970 im Bundeskanzleramt eingestellt zu werden, und konnte nun aus dem Zentrum der Macht am Rhein nach Ost-Berlin berichten. Nach seiner Enttarnung und Verhaftung im April 1974 sah sich Willy Brandt zum Rücktritt genötigt. Ein Spion aus der DDR hatte die Bundesrepublik erschüttert.
Doch wer war Günter Guillaume? Was hat er wirklich der Hauptverwaltung A (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit verraten? Und wie ist der Fall in die deutsch-deutsche Geschichte einzuordnen und zu bewerten? Eckard Michels geht diesen Fragen erstmals auf einer breiten Quellengrundlage systematisch nach und kommt dabei zu überraschenden Ergebnissen.
Zunächst wirft er neues Licht auf die Karriere des Ehepaars Günter und Christel Guillaume, die im Rahmen einer vorgetäuschten "Republikflucht" 1956 von Ost-Berlin nach Frankfurt am Main übersiedelten. Dort traten beide 1957 in die SPD ein, in der sie sich von Anfang an als rechte Sozialdemokraten gerierten, um keinen Verdacht zu erwecken. Während Günter Guillaume nach einiger Zeit hauptamtlicher Geschäftsführer des Unterbezirks Frankfurt-Nord wurde und 1968 zum Geschäftsführer der SPD-Stadtratsfraktion im Frankfurter Römer aufstieg, gelangte seine Frau, die bereits 1959 Sekretärin des Bezirksvorsitzenden Willi Birkelbach wurde, 1964 zusammen mit diesem in die hessische Staatskanzlei. Die Dokumente, die hier über ihren Schreibtisch liefen, waren von weitaus größerem Interesse für die HVA als die SPD-Interna, über die ihr Mann berichten konnte. Guillaume, der sich zwar als nicht besonders einfallsreich, aber als sehr eifrig und organisatorisch geschickt erwies, gelang jedoch als Wahlkampfhelfer Georg Lebers 1969 der Sprung nach Bonn. Leber vermittelte Guillaume an das Kanzleramt, wo dieser für seine treuen Dienste mit einer für seine Verhältnisse unangemessen hoch dotierten Stelle belohnt wurde, für die er überdies nicht qualifiziert war. Als Referent für Sozialpolitik arbeitete er zunächst unter Abteilungsleiter Herbert Ehrenberg und hatte vor allem Kontakt zu den Gewerkschaften zu halten. Zusammen mit seiner Familie - seine Frau und er hatten zwischenzeitlich einen Sohn bekommen - bezog er im eleganten Bad Godesberg eine Vier-Zimmer-Dienstwohnung: Einmal an der Macht, sorgte die SPD gut für ihre Unterstützer aus dem Parteiapparat.
Unter diesen Bedingungen, so eine überraschende, aber gleichwohl überzeugende These von Michels, identifizierte sich Guillaume immer mehr mit der Rolle, die er eigentlich nur spielen sollte. War er in Frankfurt "im Herzen schon [...] in erster Linie ein ultrarechter Sozialdemokrat und erst in zweiter Linie ein HVA-Agent" (76), so gewann im Bundeskanzleramt "der Sozialdemokrat in Guillaume endgültig die Oberhand" (128). Aus Identifikation mit seiner Rolle und aus Verehrung für Brandt trat für ihn die Spionage für Ost-Berlin in den Hintergrund. Michels zufolge war er nun vor allem von der Illusion motiviert, zur großen Politik beitragen zu können: Er habe angeblich das Konzept einer deutsch-deutschen Annäherung verfolgt, das "sowohl die Stabilisierung der DDR als auch der Regierung Brandt" vorgesehen habe (197). Für eine solche "Konzeption" kann Michels allerdings keine Belege anführen, zumal die Berichte, die Guillaume nach Ost-Berlin schickte, nicht erhalten sind.
In diesem Zusammenhang steht die andere wichtige These des Buches: Guillaume war nicht der Meisterspion, der in den entscheidenden Jahren der Neuen Ostpolitik Ost-Berlin mit brisanten Insider-Informationen aus dem Kanzleramt auf dem Laufenden hielt, sondern seine Berichte hatten für die HVA letztlich keinen großen Wert. Denn obwohl er von Anfang 1970 bis März 1974 im Kanzleramt tätig war, beschränkte sich seine aktive Berichtszeit nur auf 23 Monate, da er während eines Großteils des Jahres 1970 wegen seiner Sicherheitsüberprüfung und in der zweiten Jahreshälfte wegen gegen ihn und seine Frau gerichteten Observationen von der HVA "stillgelegt" war. Überdies war er weder als Referent für Sozialpolitik und Verbindungsmann zu den Gewerkschaften noch im Kanzlerbüro ab Februar 1973 auf Positionen tätig, wo er mit brisanten Informationen zu tun hatte. Als persönlicher Referent war er für Brandt nur in dessen Funktion als SPD-Vorsitzender zuständig; über seinen Schreibtisch gingen Parteiangelegenheiten und keine Verschlusssachen zu außen- oder innenpolitischen Vorgängen. Und über SPD-Interna war die HVA schon aus anderen Quellen hinreichend unterrichtet. Gleichzeitig wurde Guillaume von seinen Kollegen im Kanzlerbüro für ein politisches und intellektuelles Leichtgewicht gehalten, so dass sie sich mit ihm nicht über wichtige Details aus ihren Fachgebieten austauschten.
Nur durch Zufall enttarnte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) Guillaume im Frühjahr 1973. Man ließ ihn jedoch noch ein Jahr im Amt, weil man genauere Belege über seine Spionagetätigkeit benötigte, so dass Brandt "vom BfV unter Duldung des vorgesetzten Innenministers [...] als Köder zum Fang eines Agenten benutzt" wurde (167). Michels wirft einiges Licht auf die dilettantische Arbeitsweise des BfV, der die Guillaumes sogar Verdacht schöpfen ließ, dass sie observiert wurden; da Guillaume aber weiter in der Umgebung Brandts belassen wurde und diesen 1973 sogar in seinen Sommerurlaub begleitete, glaubte das Ehepaar nicht, dass dies mit der Spionagetätigkeit im Kanzleramt zusammenhing.
Die Verhaftung Guillaumes im April 1974 löste den Rücktritt Willy Brandts als Bundeskanzler aus; längst wissen wir, dass die Enttarnung Guillaumes lediglich der Anlass, nicht aber die Ursache für diesen Schritt war. Michels sieht Brandt zu Recht "als Opfer von Umständen und Fehlleistungen, die eigentlich nicht ihm anzulasten waren" (227) - der Umfang des Geheimnisverrats rechtfertigte den Rücktritt nicht. Nach der Aufdeckung des Spionagefalls bot Honecker eine Reihe von Erleichterungen im deutsch-deutschen Verhältnis an, um Brandt zu unterstützen und im Amt zu halten. Dieser Versuch kam aber zu spät, da Brandt zum Zeitpunkt des Angebots bereits zurückgetreten war. Helmut Schmidt kam jedoch, was Michels nicht schreibt, auf das Angebot zurück, so dass der Stillstand in den deutsch-deutschen Beziehungen überwunden werden konnte. Zunächst bedeutete die Demission Brandts für das SED-Politbüro einen Rückschlag, und Breschnew war verärgert, dass auf diese Weise sein Verhandlungspartner, zu dem er eine persönliche Beziehung entwickelt hatte, abhanden gekommen war. Doch trotz dieser Komplikationen und Unstimmigkeiten meint Michels, dass die SED-Führung "im tiefsten Innern" den Sturz Brandts eher begrüßte als bedauerte, da Brandt unter den Ostdeutschen hoch angesehen war (245).
Guillaume selbst, so kann Michels anhand von Briefen an seine Ehefrau darlegen, entdeckte in der Untersuchungshaft seine DDR-Identität wieder, da ihn die westdeutsche Gesellschaft nun angeblich so schlecht behandelte. Zur Jahreswende 1975/76 hatte er "seine zweite Haut als Westdeutscher und Sozialdemokrat [...] wieder abgestreift und sich in das SED-Mitglied und den HIM [Hauptamtlicher Inoffizieller Mitarbeiter] des MfS der fünfziger Jahre zurückverwandelt" (287). Zu dieser Zeit verbüßten er und seine Frau bereits eine zwölf- bzw. achtjährige Haftstrafe: ein Strafmaß, das für Michels "in keinem Verhältnis zu dem nachweisbaren Geheimnisverrat" stand (282). Jedoch musste das Gericht den Erwartungen von Regierung, Opposition und Öffentlichkeit nach strenger Bestrafung gerecht werden: Es war daher die politische Bedeutung des Falles, die sowohl für die lange Haftstrafe als auch für die lange Haftdauer verantwortlich war. Erst 1981 ließ sich Bonn auf einen Austausch des Ehepaars Guillaume ein.
Erst im Nachhinein, so eine weitere wichtige Erkenntnis des Buches, wurde Guillaume zu dem Meisterspion, als der er in Ost und West lange Zeit angesehen wurde. Für die westdeutsche Öffentlichkeit war dies seit seiner Verhaftung klar; die Unionsparteien förderten diese Interpretation, um die SPD bloßstellen zu können. Doch auch die DDR besaß, nachdem sie den Fall zunächst heruntergespielt hatte, nach der Rückkehr Guillaumes ein Interesse an diesem Mythos: Nur so konnte man seiner gut siebenjährigen Haft einen Sinn geben und seinen Einsatz als vorbildhaftes Opfer stilisieren. Eckart Michels kommt das Verdienst zu, diesen Mythos gründlich dekonstruiert zu haben.
Hermann Wentker