Everhard Holtmann / Anne Köhler: Wiedervereinigung vor dem Mauerfall. Einstellungen der Bevölkerung der DDR im Spiegel geheimer westlicher Meinungsumfragen, Frankfurt/M.: Campus 2015, 325 S., ISBN 978-3-593-50476-6, EUR 39,90
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Siegfried Suckut (Hg.): Volkes Stimmen. "Ehrlich, aber deutlich" - Privatbriefe an die DDR-Regierung, 2. Auflage, München: dtv 2016, 576 S., ISBN 978-3-423-28084-6, EUR 26,90
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Kirsten Gerland: Politische Jugend im Umbruch von 1988/89. Generationelle Dynamik in der DDR und der Volksrepublik Polen, Göttingen: Wallstein 2016
Marie Müller-Zetzsche: DDR-Geschichte im Klassenzimmer. Deutung und Wissensvermittlung in Deutschland und Frankreich nach 1990, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2020
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Oliver Kiechle: Fritz Selbmann als Kommunist und SED-Funktionär. Individuelle Handlungsspielräume im System. Eine politische Biographie, Düsseldorf: düsseldorf university press 2013
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Peter Joachim Lapp: Georg Dertinger: Journalist - Aussenminister - Staatsfeind, Freiburg: Herder 2005
Wie dachten die Menschen in der DDR? Wie standen sie zur DDR? Was hielten sie von der Bundesrepublik? Wie schätzten sie ihre wirtschaftliche Situation ein? Wie beurteilten sie die politische Situation in ihrem Land, im geteilten Deutschland, im Ostblock, im geteilten Europa? Auf all diese und andere Fragen gibt es keine befriedigenden Antworten. In der DDR existierte zwar ab 1964 ein dem Zentralkomitee der SED unterstelltes Institut für Meinungsforschung; 1978 beschloss das Politbüro aus nach wie vor ungeklärten Gründen jedoch seine Auflösung und die Vernichtung seiner schriftlichen Hinterlassenschaft. Zeithistoriker, die etwas über die Bevölkerungsstimmung in der DDR wissen wollen, müssen daher auf andere Überlieferungen zurückgreifen, etwa auf die Berichterstattung der SED oder der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe der Staatssicherheit. Da sowohl die SED- als auch die MfS-Berichte aus einem spezifischen "Tunnelblick" geschrieben wurden, können sie nach Objektivität strebende Meinungsumfragen jedoch nicht ersetzen.
Daher bieten auf den ersten Blick die "Stellvertreterumfragen" von Infratest Dimap hier einen gewissen Ersatz. Diese stehen im Mittelpunkt des von Everhard Holtmann und Anne Köhler verantworteten Bandes. 1968 trat der damalige Minister für gesamtdeutsche Fragen (BMG), Herbert Wehner, an Infratest mit dem Wunsch heran, "ein Erhebungsmodell zu entwickeln, das genauere Informationen zur Situation der Bevölkerung in der DDR liefere" (27). Daraufhin entwickelte Infratest das Modell der Stellvertreterforschung. Dazu wurden Interviews nach folgendem Muster durchgeführt: Ein westdeutscher Besucher der DDR musste Auskunft über die eigenen Eindrücke in der DDR und persönliche Einstellungen sowie Auskünfte über Einstellungen eines DDR-Bewohners geben, mit dem er sich ausführlicher unterhalten hatte. Diese Stichproben wurden dann von Infratest anhand der Daten des Statistischen Jahrbuchs der DDR nach Alter und Geschlecht gewichtet, so dass am Ende Ergebnisse in Prozentwerten und Hochrechnungen präsentiert werden konnten. Insgesamt wurden zwischen 1968 und 1989 27.000 Interviews durchgeführt. Es handelt sich in der Tat um "eine zeithistorische Quelle besonderen Ranges" (21), von der wir zwar schon seit einiger Zeit wussten, die aber nun erstmals einem breiteren Publikum bekannt gemacht wird. Allerdings hätte diese Quelle eine bessere Behandlung verdient als in dem vorliegenden Band.
So erfahren wir kaum etwas über die Motive, die 1968 Wehner und die BMG-Spitze dazu bewogen, die Infratest-Berichte in Auftrag zu geben. Die naheliegende Frage, warum die Befragungen über die Regierungswechsel von 1969, 1974 und 1982 beibehalten wurden, wird genauso wenig beantwortet wie die nach der Rezeption dieser Analysen im Regierungsapparat der Bundesrepublik. Holtmann und Köhler schreiben lediglich, dass von den fünf Exemplaren jeder Analyse für das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen jeweils eine an den Berliner Senat und zwei an das Bundeskanzleramt gingen. Hier hätte Anne Köhler, die als geschäftsführende Gesellschafterin von Infratest das DDR-Forschungsprojekt während der gesamten Laufzeit leitete, etwas mehr aus ihrer Erinnerung berichten bzw. durch Recherchen im Bundesarchiv einiges ergänzen können.
Das Buch besteht aus einer Auswahl unterschiedlicher Jahresbände, einem "Trendbericht" 1969 bis 1973 und zwei inhaltlichen Schwerpunktkapiteln zu den Themen Westreisen (aus dem Jahre 1988) und Ausreisen von DDR-Bürgern - warum diese und keine anderen Berichte ausgewählt wurden, wird nicht erläutert. Aus diesen Berichten werden wiederum nur Auszüge veröffentlicht, wobei auch hier unklar bleibt, was weggelassen wurde. Eingeleitet werden sie bisweilen durch "Chroniken", die die wichtigsten Ereignisse des Berichtsjahres in Erinnerung rufen sollen. Hier vermisst man die nötige Sorgfalt: So endete die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975 und nicht 1976 (157), und damals wurde auch nicht das "KSZE-Abkommen" (163), sondern die KSZE-Schlussakte unterschrieben. Außerdem wurden für die hier genannten Übersiedlerzahlen nicht die aktuellen Forschungsergebnisse berücksichtigt.
Die Auszüge aus den Berichten sind zwar in allgemeiner Hinsicht durchaus aufschlussreich. So belegen sie zum einen den mangelnden Rückhalt, den die DDR bei ihren eigenen Bürgern besaß, wobei Honecker zu Beginn seiner Amtszeit noch relativ populär war, also noch außerhalb von SED-Zirkeln Popularität gewinnen konnte. Denn ein Jahr nach seinem Amtsantritt stellten DDR-Bürger in ihren persönlichen wirtschaftlichen Lebensverhältnissen Verbesserungen fest. Ende der 1970er Jahre verschlechterte sich die Stimmung, die sich ab 1983 wieder aufhellte. 1988 veränderte sich diese wieder zum Schlechteren und verwies damit auf das nahende Ende der DDR. Zum anderen zeigen die Analysen neben der zu erwartenden positiven Überhöhung des Westens, dass die DDR-Bürger lange Zeit in zweierlei Hinsicht den eigenen Staat der Bundesrepublik vorzogen: Sie waren mehrheitlich der Meinung, dass das eigene Bildungswesen besser funktionierte und schätzten überdies die Arbeitsplatzsicherheit.
Die Berichtsauszüge können indes nicht die Originalberichte ersetzen. Denn nur in letzteren sind die Antworten zu den gleichen Fragen Jahr für Jahr nachvollziehbar, sodass der Wandel von Einstellungen sehr viel besser rekonstruiert werden kann als anhand der Auszüge. Außerdem gehen hier oftmals Datenpräsentation und Datenanalyse übergangslos ineinander über. Das Buch, so lässt sich zusammenfassend feststellen, bietet also erste Einblicke in die von Infratest im Auftrag der Bundesregierung durchgeführte Stellvertreterforschung mit Blick auf die DDR, aber es erspart dem Historiker, der es genauer wissen will, nicht den Gang ins Infratest- oder ins Bundesarchiv.
Siegfried Suckut, ehemaliger Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung der BStU, nähert sich der Frage, wie die DDR-Bürger wirklich dachten, auf der Grundlage zahlreicher Briefe, die die Postkontrolle des MfS sicherstellte. Ab 1964 wurden solche Briefe, die an Ulbricht, Honecker, an Minister, Zeitungen oder andere DDR-Autoritäten gerichtet und aus Sicht des MfS "sicherheitsrelevant" waren (20), von der Abteilung 2 der Hauptabteilung XX gesammelt - vor allem um die Briefschreiber dingfest zu machen. Diesen Bestand von 200 Akten hat Suckut ausgewertet und insgesamt 248 Briefe ediert, aus denen hervorgeht, wie die Schreiber über die DDR dachten, welche Veränderungen sie anmahnten und welche Erfahrungen sie mit Staatsvertretern gemacht hatten. Von den 248 ausgewählten Briefen richteten sich 182 an Machtträger in der DDR und deren ausführende Organe, 45 an West-Adressaten, und bei 19 handelte es sich um West-Zuschriften. Die Briefe bezeichnet Suckut zu Recht als "O-Töne aus der Bevölkerung" (14). Eingaben sind nicht dabei, da diese meist Verwaltungsentscheidungen veranlassen oder rückgängig machen sollten und keine offene Meinungsäußerung darstellten. Schließlich erinnert er daran, dass es sich um "gescheiterte Kommunikationsversuche" (29) gehandelt habe: Denn die Adressaten bekamen die eingezogenen Briefe wohl nie zu Gesicht.
Die Zuschriften decken ein weites Spektrum ab. Enthalten ist etwa eine Kaffee-Einladung einer Dresdner Familie an Honecker von 1977 (Dok. 64) - warum diese als "sicherheitsrelevant" eingestuft wurde, ist völlig unverständlich -, aber auch ein Leserbrief aus Stuttgart an die "Freie Presse" in Zwickau vom August 1989, der wohl von Stasi-Offizieren geschrieben wurde, um DDR-Bürger von einer Ausreise in die Bundesrepublik abzuhalten (Dok. 248). Doch typisch für den Band sind eher Briefe (regime-)kritischen Inhalts, die, so Suckut, "auf ein eklatantes Defizit des DDR-Sozialismus [verweisen]: Es fehlte ihm an überzeugten Anhängern" (33).
In seiner instruktiven Einleitung fasst Suckut die Themen zusammen, die in den Briefen zur Sprache kommen. Das war zunächst die nationale Einheit, die auf die unterschiedlichste Art und Weise thematisiert werden konnte: durch die Forderung nach Wiedervereinigung, durch die Ablehnung einer Anerkennung der DDR oder durch Briefe an westdeutsche Politiker, wobei zu Beginn der 1970er Jahre Willy Brandt wohl der populärste deutsche Staatsmann in der DDR war. Zahlreiche Briefe bestätigen den Befund, dass die westdeutsche Politik intensiv - und keineswegs unkritisch - verfolgt und in der DDR bis Ende der 1970er Jahre sehr viel stärker gesamtdeutsch gedacht wurde als in der Bundesrepublik.
Ein immer wiederkehrendes Thema ist die wirtschaftliche Situation und die Versorgungslage, wobei sich die entsprechenden Beschwerden zwischen 1979 und 1983 häuften. Dabei verweisen die Briefe nicht auf eine durch die Mangelsituation hervorgerufene Solidarisierung der Menschen, sondern auf Neid und Missgunst gegenüber anderen, vermeintlich bevorzugten Gruppen. Diese richtete sich fast immer gegen die "oberen Hunderttausend" oder "oberen Zehntausend", die aufgrund ihrer Privilegien aus Sicht der Briefschreiber in "Saus und Braus" lebten (56f.). 1989/90 zeigte sich, dass es mit dem Luxus der SED-Führung nicht so weit her war, aber deren systematische Abschottung ließ solche Gefühle fast zwangsläufig aufkommen. Gleichzeitig betrachteten sich gerade die Arbeiter im "Arbeiter- und Bauernstaat" als die gegenüber den "Diplomtheoretikern" Benachteiligten, während letztere sich durch die egalisierende Lohnpolitik ungerecht behandelt fühlten. Am meisten Grund zur Klage hatten indes die an der Armutsgrenze lebenden Rentner, die immer wieder Verbesserungen anmahnten und dabei die Bevorzugung der jüngeren anprangerten: Die Briefe dokumentieren folglich auch "einen Generationenkonflikt zwischen denen, die den Krieg miterlebt und die ersten Jahre des Wiederaufbaus mitgestaltet hatten, und der FDJ-Generation, die schon in der DDR aufgewachsen war" (69).
Aufschlussreich sind die Zuschriften ebenfalls für einige pointierte Urteile über die Sowjetunion und die "Bruderstaaten". Wurde in der Öffentlichkeit die unverbrüchliche Freundschaft mit der Sowjetunion zelebriert, so herrscht in den Briefen ein ganz anderer Ton. Dem "Verräter" Honecker wurde 1979 entgegengehalten: "Einen Russen wie Du es bist, brauchen wir nicht." (Dok. 87) Einen Briefschreiber ekelte es 1964 an, wie man den Russen "in den Hintern" kroch (Dok. 4), und noch 1984 hieß es in einem anonymen Schreiben, wohl an das sowjetische Kommando in Wünsdorf: "Ihr seid und bleibt Vergewaltigungsschweine." (Dok. 121) Das änderte sich mit dem Amtsantritt Gorbatschows, der zum Hoffnungsträger für zahlreiche DDR-Bürger wurde. An ihn selbst richteten sich Zuschriften, die zu einem "Machtspruch" zur Veränderung der Verhältnisse in der DDR aufforderten (Dok. 125); von Honecker verlangten einige Dresdner 1987, die sowjetische Reformpolitik zu übernehmen. Das Sputnik-Verbot vom November 1988 verursachte vor diesem Hintergrund viel Empörung, die sich ebenfalls in zahlreichen Briefen niederschlug.
Bemerkenswert war überdies, dass SED-Mitglieder in ihren Briefen genauso kritisch waren wie Nichtorganisierte. Auch hier wurde den Regierenden etwa entgegenhalten, dass es in der DDR so zugehe wie unter den Nazis und Ulbricht ein Diktator sei. Allerdings waren diese Briefe weniger von Hass als von der Sorge getragen, der Sozialismus entwickle sich in der DDR in die falsche Richtung. Und das vor allem deswegen, weil die Führung die Stimmung im Lande nicht kenne, die die Briefschreiber sodann ausführlich schilderten. In diesen Zuschriften waren auch Reformvorschläge enthalten, die jedoch alle "auch unter den Bedingungen einer offenen Grenze und freier Wahlen von der staatlichen Fortexistenz der DDR ausgingen" (so Suckut, 101).
Wie repräsentativ waren diese Schreiben für die allgemeine Stimmung unter der Bevölkerung? Suckut ist hier sehr vorsichtig. Die Zuschriften gäben "keinen repräsentativen Eindruck von den politischen Meinungen in der Gesamtgesellschaft, eröffnen aber seltene Einblick und die in ungewohnter Authentizität" (20). Jedoch bewertet er diese nicht als zufällige Einzelmeinungen, sondern aufgrund der anderen zugänglichen Quellen wohl zu Recht als "teilrepräsentative Einstellungen" (21). Dabei ist freilich zu bedenken, dass es sich fast ausschließlich um Schreiben handelte, die von der Stasi aufgrund ihres kritischen Inhalts abgefangen wurden - Ergebenheitsadressen an die Führung finden sich daher hier nicht. Es sind also letztlich nur diejenigen erfasst, die sich dazu aufrafften, solche kritischen Schreiben zu verfassen - das breite Feld der Mitläufer und Angepassten, aber auch der Resignierten kann durch die Briefe nicht erfasst werden.
Gleichwohl handelt es sich um hochinteressante Dokumente, die einen Einblick in das Denken zahlreicher Ostdeutscher geben. Sie werden nur spärlich kommentiert, so dass sich der Leser manchmal genauere Angaben gewünscht hätte. Überdies wird öfter auf Zeitungsartikel Bezug genommen, deren Inhalt sich nicht immer aus den Briefen erschließt - auch hier wäre eine intensivere Recherche und ausführlichere Kommentierung hilfreich gewesen. Schließlich enthält der Band zahlreiche Briefe als Faksimile. Das verstärkt zwar den Eindruck von Authentizität. Da diese jedoch oftmals schwer lesbar sind, wäre deren Abdruck sinnvoller gewesen. Das schmälert den positiven Gesamteindruck jedoch nur unwesentlich: Allen, die an "O-Tönen" aus der DDR-Bevölkerung interessiert sind, sei dieser Band wärmstens empfohlen.
Hermann Wentker