Siegfried Suckut (Hg.): Die DDR im Blick der Stasi 1976. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 320 S., Mit 4 Abbildungen und einer CD-ROM, ISBN 978-3-525-37300-2, EUR 29,90
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Für die DDR war das Jahr 1976 eines der bewegtesten ihrer Geschichte. Die Proteste gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann und den Ausschluss von Reiner Kunze aus dem Schriftstellerverband schlugen hohe Wellen. Im Herbst schockierte die Meldung über die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz die Weltöffentlichkeit. Die Verleumdungskampagne, die danach von der SED-Führung lanciert wurde, rief nicht nur kirchlichen Protest hervor. Die deutsch-deutschen Verträge und die internationale Entspannungspolitik zeigten 1976 ihre Wirkungen vor allem in einem sprunghaften Ansteigen der Ausreiseanträge aus der DDR.
Diesem Jahr der DDR-Geschichte nähert sich der vorliegende erste Band einer Editionsreihe der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Er enthält Berichte, die von der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) [1] des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) für die SED-Parteiführung erstellt wurden. Die ZAIG hatte für die systematische Bearbeitung der Informationen, die im MfS gesammelt wurden, und ihre Weiterleitung an die SED-Parteiführung eine "Schlüsselfunktion" inne (7). Im Vorwort des vorliegenden Editionsbands macht Daniela Münkel die nötigen Angaben zu Struktur und Aufgaben der ZAIG von 1953 bis 1989.
Bereits 2007 wurde das Projekt zur Veröffentlichung der ZAIG-Informationen vorgestellt [2], das in einer Pilotphase aus jedem der vier Jahrzehnte der DDR-Geschichte zunächst je einen Jahrgang - 1976, 1988, 1960 und 1953 - herausgreift. Die übrigen Jahrgänge sollen schrittweise publiziert werden. Alle von der ZAIG verfassten Berichte, die die Lage in der DDR betreffen, wurden in die Edition aufgenommen. Von einer Veröffentlichung der von der Hauptverwaltung A (HVA) stammenden Auslandsberichte, die ebenfalls von der ZAIG bearbeitet wurden, wurde abgesehen. Dies ergibt sich zum einen aus der Konzeption der Edition, die Lage in der DDR aus dem Blickwinkel der Stasi zu dokumentieren. Zum anderen kann die Entscheidung vermutlich damit begründet werden, dass die HVA viele ihrer Berichte in den Wirren der friedlichen Revolution vernichten konnte. Eine Auswahl der Inlandsberichte wurde in dem vorliegenden Band abgedruckt. Der weitaus größere Teil der ZAIG-Dokumente von 1976 wurde allerdings auf einer beiliegenden CD gespeichert, deren Benutzerfunktionen intuitiv gut zu bedienen sind und eine problemlose, rasche Suche im kompletten Jahrgang nach verschiedenen Kriterien ermöglichen.
Siegfried Suckut analysiert in seinem einleitenden Beitrag die Informationen der ZAIG für das Jahr 1976. Dabei weist er zunächst darauf hin, dass es in diesem Jahr aus der Sicht des MfS für die Sicherheitslage in der DDR "keinen Anlass zur Sorge" gab. Diese Einschätzung prägte die Informationspolitik des MfS im Jahr 1976 (19). Selten zu finden sind zusammenfassende Lageberichte der ZAIG. Sie berichtete hauptsächlich über einzelne Probleme und Geschehnisse in der Gesellschaft, sodass die edierten Dokumente sich durch ein sehr breites Themenspektrum auszeichnen. Suckut untersucht die über 300 Inlandsberichte der ZAIG anhand thematischer Schwerpunkte wie etwa der Ausbürgerung Wolf Biermanns, Berichten aus der Wirtschaft, Flucht und Ausreise, Kirchen und oppositionellen Tendenzen. Er fragt insbesondere danach, inwieweit das MfS die bedrohlichen Folgen der Entspannungspolitik für die SED-Herrschaft erkannte. Aus den Berichten der ZAIG lässt sich schließen, dass das MfS zwar die außenpolitischen Entwicklungen aufmerksam registrierte, die Parteiführung aber nicht umfassend vor ihren Folgen für die DDR warnte. Vielmehr bewegte sich die ZAIG mit ihren Berichten stets innerhalb der von der Parteiführung vorgegebenen ideologischen Sichtweise.
Besonders für Fragen zur Herrschafts- und Wirtschaftsgeschichte der DDR (52), aber auch in "Randbereichen" zur Geschichte der Bundesrepublik und "zu einzelnen Aspekten der internationalen Beziehungen" (7) sind die Informationen aufschlussreich. Die Besonderheit der ZAIG-Berichte liegt darüber hinaus in ihrem "ambivalenten" Quellenwert (8) begründet: Einerseits können viele Erkenntnisse aus ihnen gewonnen werden, weil sie einen breiten Blick auf die aus Sicht des MfS objektiven Probleme der DDR-Gesellschaft freigeben. Andererseits wurde in den Informationen über Themen, die "Legitimationsprobleme" des SED-Regimes berührten, "fast grundsätzlich tendenziös" (8) berichtet. Mit dieser Art der Berichterstattung wollte das "Schwert und Schild" der Partei einer möglichen Kritik an seiner Arbeit vorbeugen. Die Reaktion vor allem des Generalsekretärs Erich Honecker wurde beim Erstellen der Berichte bereits gedanklich antizipiert. Die tendenziöse Berichterstattung der ZAIG zeigt sich zum Beispiel auch in den Informationen über Robert Havemann und Wolf Biermann in "kleinteiligen Manipulationen und verfälschende[n] Akzentuierungen." (17) Dennoch wurde in der Edition angesichts der Menge der Informationen von einer Kommentierung der Quellen "en détail" (17) abgesehen. Manche Informationen wurden erst gar nicht an die Parteiführung weitergegeben, obwohl sie dieser wichtige Hinweise auf schwerwiegende gesellschaftliche Probleme hätten geben können. So etwa die umfassendste Information des Jahrgangs, die die Lage im Gesundheitswesen der DDR analysierte und dabei auf gravierende Mängel aufmerksam machte. Der Bericht kam zu dem Schluss, dass der schlechte und zum Teil gesundheitsgefährdende bauliche Zustand von Krankenhäusern und die geringe Bezahlung des Personals bei diesem zu Fluchtversuchen und Ausreiseanträgen führen würden. Warum sich der Minister für Staatssicherheit dagegen entschied, diese oder auch andere ZAIG-Informationen an die Parteiführung weiterzuleiten, ist in der Regel nicht überliefert.
Mit der Veröffentlichung aller ZAIG-Inlandsberichte steht der Forschung ein großer Fundus an Quellen zur DDR-Gesellschaft aus dem spezifischen Blickwinkel des MfS zur Verfügung. Die in der Edition dokumentierten Quellen stellen aufgrund ihres "ambivalenten" Wertes zugleich hohe Ansprüche an die Sorgfalt der Benutzer, nicht nachträglich die oftmals schwer zu erkennende "tendenziöse" Berichterstattung unkritisch zu übernehmen. Die Einleitung von Suckut zeigt deutlich das breite Spektrum an Erkenntnissen, das - nicht nur für das Jahr 1976 - aus den ZAIG-Dokumenten für die verschiedensten Forschungsthemen gewonnen werden kann.
Anmerkungen:
[1] Roger Engelmann / Frank Joestel: Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (= Anatomie der Staatssicherheit. MfS-Handbuch), Berlin 2009.
[2] Jens Gieseke (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR (= Analysen und Dokumente, Bd. 30), Göttingen 2007.
Anja Hanisch